Die Grenze zwischen Ich und Du – Das Unausdrückbare auf die Bühne bringen
Mit «Fantasia» wagt Anna Karasinska ein Experiment, das nichts Geringeres will, als die Anonymität zwischen fremden Menschen aufzulösen. Und zwar zwischen so vielen wie möglich.
Sechs Menschen stehen auf der Bühne. Ohne Kostüme. Ohne Bühnenbild. Einziges Requisit ist ein Joghurt ohne Löffel. Das ist die Ausgangssituation des Stückes Fantasia von Anna Karasinska. Mit den sechs Menschen auf der Bühne (das Joghurt spielt eine untergeordnete Rolle) hat die polnische Regisseurin Grosses vor: Sie will das auf die Bühne bringen, was unsichtbar ist. Was das Ich vom Du trennt.
Karasinska sitzt hinter dem Publikum und liest laut vor. Sie sagt, welche Rolle welcher Schauspieler auf der Bühne einnehmen soll: «Das ist Dobramir. Er spielt jemanden, der in den Pool pinkelt. Das ist Adam. Er spielt jemanden, der sich vielleicht in die Luft sprengen wird. Das ist Agatha. Sie spielt die Frau, die vor dir dieselbe Busstange angefasst hat.»
In der Beschreibung des Theaterspektakel-Programmhefts heisst es, bei diesem Stück «öffne sich ein imaginativer Raum, den das Publikum durch die eigene Vorstellungskraft füllt». Aber eigentlich passiert das bei jedem Theater. Fantasia ist auch ein Stück über das Theater. Es spielt auf extreme Weise mit dem unsichtbaren Vertrag, den das Publikum bei jedem Stück mit den Schauspielern schliesst. Es geht um die Annahme, dass das, was da auf der Bühne behauptet wird, als gegeben angenommen wird.
Die Rollen der sechs Schauspieler wechseln dauernd. Sie nehmen zufällig die Rollen gewöhnlicher Menschen ein, irgendwelcher Menschen. Die einen kennt man sicher: «Monika spielt jemanden, der sich schämt, zu seinem Lieblingslied zu tanzen», die anderen bleiben eher unbemerkt: «Agatha spielt jemand, der keinen Fernseher hat und sich deshalb als etwas Besseres fühlt.» Bei jeder beginnenden Passage, also bei jeder neuen Rollenbeschreibung, schaut das Publikum erwartungsvoll zum angesprochenen Schauspieler. Diese schauen zurück. Und man glaubt, die Charakteristika der erfundenen Rollen in den Gesichtern der jeweils Spielenden lesen zu können.
Karasinska gibt mit ihrem Stück Fantasia all den anonymen Fremden und dem unbeachteten Leben um uns herum eine Geschichte. Damit schafft sie Verständnis für die verschiedenen Schicksale der Menschen. Denn nur, wer die Geschichte hinter einem Gesicht kennt, kann Verständnis für diese Person entwickeln. Das schafft Mitgefühl und Verbundenheit. Die einzelnen, satellitenartigen Bewusstseine der Menschen werden vernetzt. Das Wissen über den anderen ermöglicht Berührungspunkte. Und als Monika anfängt, einen Joghurt mit ihren Fingern zu löffeln, fühlt das Publikum mit Monika mit, weiss, dass Monika keine wilde Verrückte ist, sondern schlicht eine, die keinen Löffel hat.
Die Sprachverwirrung, mit der Gott in der Genesis die Menschen für ihren Grössenwahn strafte, kann auch als extreme Individualisierung gelesen werden. Jeder ist anders, einzigartig und damit auch unendlich einsam. Er oder sie kennt nur die eigene Perspektive, mit dem eigenen Wissen auf die Dinge. Geteilte Wissenswelten sind immer nur begrenzt möglich. Wenn man niemandem vertraut, kann man sich nur der eigenen Existenz ganz sicher sein. Karasinska verbindet die Menschen mit Fantasia mittels Hintergrundwissen.
Es ist vollkommen unmöglich, die Geschichte hinter jedem Fremden, dessen Weg man kreuzt, zu erfahren –gerade in grossen Städten wie Zürich. Doch was Karasinska ihrem Publikum mitgibt, ist ein Nachhall der Neugierde. Und Neugierde schafft ein positives Grundgefühl gegenüber dem Unbekannten.
Spezialausgabe
Turmbau zu Babel
Deborah von Wartburg (*1991), Absolventin des Master Kulturpublizistik der ZHdK, ist Journalistin. Sie interessiert sich für gesellschaftliche Fragen auf und neben der Bühne und mag es, wenn im Theater mediale Grenzen verschwimmen.