Die Ernsthaftigkeit des Absurden
William Kentridge rezitiert die «Sonate in Urlauten» von Kurt Schwitters und wirft damit Fragen über das Absurde sowie Möglichkeitsräume im globalen Kontext auf.
William Kentridge rezitiert die rund 45-minütige Ursonate von Kurt Schwitters und steht hierfür an einem Pult mit einem Buch in der Hand, als würde er einen Vortrag halten. Bedeutung und Betonung legt er so in Buchstabenketten, dass der Sprachgestus mal belehrend, mal erklärend, mal einfach nur erzählend daherkommt, was in sich selbst schon ironisch wirkt. Wie im Kontext eines Vortrags üblich, befindet sich im Hintergrund eine Projektion: ein animierter Film mit Text- und Bildmaterial vor dem Hintergrund aufgeschlagener Buchseiten. Mit jedem Sonatensatz wird ein Buch beendet und ein neues aufgeschlagen. Beispielsweise sind Sätze wie «Whilst» auf der einen und «trying to forget everything» auf der anderen Buchseite oder ganze Teile der Ursonate wie «Fümms bö wö tää zää Uu, pögiff, kwii Ee» zu lesen. Die Projektion zeigt immer neue Anordnungen und Wiederholungen einzelner Wörter und Sätze. Hinzu kommen Bildabfolgen, deren einzelne Bilder ebenfalls in unterschiedlichen Konstellationen neu gelesen werden können. Es tauchen geometrische Formen, unterschiedliche Objekte oder Alltagsgegenstände wie eine Espressokanne oder eine Schere auf, gezeichnete Portraits unterschiedlicher Akteur*innen, Kentridge selbst in Bewegung, die Buchseiten an sich oder mit Tusche bemalte Buchseiten und bewegtes Bildmaterial von tanzenden oder musizierenden Menschen sowie Soldat*innen. Während Kentridge die Ursonate rezitiert, finden sich formale Überschneidungen des Gesprochenen und seiner Gestik mit dem gezeigten Bild- und Textmaterial. Dies sind kurze Momente der Übereinstimmung und scheinbaren Eindeutigkeit, die kurz darauf wieder gebrochen und aufgehoben werden. Für die Kadenz, bei der Schwitters dem*der Vortragenden freien Umgang zugesteht, hat Kentridge zwei Schweizer Musiker*innen eingeladen, die bis zum totalen Chaos die Ursonate rappen, steppen und trommeln. Insgesamt lenkt die Collage aus Klang-, Bild- und Text-Fragmenten, deren Aussage schwer zu deuten ist, immer wieder die Aufmerksamkeit von Kentridges’ Sprechakt ab. Stattdessen tritt die Ambivalenz zwischen Bedeutung und Nicht-Bedeutung, Sinn und Un-Sinn, Möglichkeit und Nicht-Möglichkeit und letztlich die Infragestellung von Sprache in den Vordergrund. Im Kontrast zum Vortragsstil, der Bestimmtheit suggeriert, betont die Aufführungssituation das Unlogische. Es wird gelacht.
Die «Ursonate» ist Mittel und Zweck der Verunsicherung des Publikums und des Rezitierenden. Letzterer ist im Begriff, die Sprache zu verlernen und im Moment der Aufführung in Interaktion mit dem Publikum neu zu lernen. Als performativer Akt hat die Ursonate das Potenzial, weit mehr zu erzeugen als Gelächter oder Un-Sinn. Durch den Verzicht auf logische Sprache, lässt der*die Rezitierende Sinn entstehen, den er*sie in die Ursonate hineinlegt und der sich im Akt der Aufführung vollzieht. Der Bühnenraum bei Kentridge ist – Experimentierbühne – ein Raum, indem Zeichen durch Übersetzungsprozesse immer wieder neu verhandelt und gedeutet werden, wobei das Spektakel und die Darstellung des Absurden eine Konfrontation der Wirklichkeit und der rationalen Wahrnehmung von Welt bedeutet. Angesichts komplexer politischer Verhältnisse im globalen Kontext gilt es auf die Grenzen von Sprache und der Unmöglichkeit lückenloser Verständigung sowie auf die Möglichkeit von Mehrdeutigkeit aufmerksam zu machen, und neue Formen der Verbindung von Zeichen und Kommunikationsakten zu initiieren. Im Moment geteilter Verunsicherung entsteht ein gemeinsamer Raum, der gegenseitiges Zuhören und Verstehen sowie die Suche nach der Ernsthaftigkeit im Absurden erst wieder ermöglicht.
Spezialausgabe
Turmbau zu Babel
Laura Sabel (*1990) ist Kunst- und Kulturwissenschaftlerin und arbeitet seit 2015 als Kulturvermittlerin im Cabaret Voltaire. Ihre Interessen liegen im Bereich kultureller Praktiken sowie der postkolonialen Kritik.