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Pascale Gähler

Die Bilder in uns

Als Kind versuchte ich weiss zu sein, als junge Erwachsene wollte ich eine Schwarze[1] Frau sein, doch beides hat lange nicht funktioniert. Ein aufgeschriebener Gedankentanz durch das Verhandeln meiner Identität und der Versuch, ohne Zuschreibung, ohne Kategorisierung einfach zu sein, damit mein Verständnis der vielfältigen Schweiz als Normalität nicht länger eine Utopie bleibt.

Zwischen der Albiskette und der Reuss, in der Agglomeration von Zürich, bin ich als Mädchen of Color[2] aufgewachsen. Die Frage, woher ich komme, prägt mich bis heute. Sie impliziert, dass ich anders als das Gegenüber bin. Die Antwort, von hier zu sein, reicht nie aus. Die Frage verlangt danach, dass ich mich erkläre. Die Frage schreit nach der persönlichen Geschichte von mir und meiner Familie. Die Erwartung ist offenbar, dass ich diese schon nach einer kurzen Konversation preisgeben möchte oder soll.

Es muss also immer die Biografie meiner Eltern und im Speziellen meines Vaters folgen. Doch im Mekka der Kakaoernten zwischen der Elfenbeinküste und Guinea, wo Dieselmotoren husten und die Luft nach Weihrauch riecht, verorte ich mich nicht. Und obwohl ich dort nicht öfter bin als in den Schweizer Bergen, werde ich als Mensch mit Migrationshintergrund immer wieder gerne dorthin zurück gewünscht, wo ich weder geboren, noch aufgewachsen bin und auch nicht lebe. Hier jedoch, wo sich Teile der Bevölkerung in Trachten versammeln, um den starken Männern zuzusehen, die einen Baumstamm hinter sich herziehen und die Traditionen der Viehschauen und Alpfahrten zelebrieren, fühle ich mich, auch wenn mein Heimatort in Appenzell, der meinen Pass ziert, etwas anderes vermuten liesse, ebenfalls nicht heimisch.

Die soeben aufgerufenen Bilder zeigen, wie Stereotypen sowie Vorurteile entstehen und wie problematisch sie sein können. Gewisse Attribute können zur Identifikation beitragen. Doch ist es legitim, sie automatisch Menschen zuzuschreiben, die man damit assoziiert? Wenn Heimat ein Ort ist, mit dem ich verbunden bin, ohne dass jemand mir dazu Fragen stellt, bin ich somit heimatlos? Und wenn ich einen Ort als Heimat empfinde, aber nicht als zugehörig empfunden werde, muss ich mir eine Zugehörigkeit erkämpfen? Wieso kategorisiert der Mensch so oft und gerne? Wieso schreibt er anderen Menschen so gerne Merkmale zu, ohne sie und ihre Hintergründe zu kennen? Kennt die Impertinenz und Ignoranz, die darin liegt, keine Grenzen? Ist das Gefühl, eine einfache und eindeutige Welt vor sich zu haben, so verlockend?

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Als Jugendliche sagte eine flüchtige Freundin in der rhythmisch ratternden alten S-Bahn nach Zürich zu mir, ich könne bestimmt besonders gut swaggen, singen und tanzen. Man sah mir damals nicht an, wie unangenehm mir diese Aussage war. Hastig nickend wechselte ich das Thema. Keine ihrer Vorstellungen entsprach der Realität. Weshalb denn auch? Ich paukte wie sie auf Prüfungen, verfluchte meine Pickel im Gesicht und durchlebte meine persönliche emotionale Achterbahn. Sie war nicht die Einzige, die mich aufgrund meiner Hautfarbe oder der Art, wie ich meine Haare flechte, stereotypisierte und exotisierte, mich als «anders» wahrnahm oder noch immer wahrnimmt.

Die eigene Identität zu finden, ist ohnehin schon kompliziert. Doch inmitten der weissen Leitkultur und unausgesprochenen, tief verankerten, rassistischen Strukturen war es für mich sehr herausfordernd, meinen Platz zu finden. In der Schweiz sozialisiert, doch ständig mit Klischees und Stigmatisierungen konfrontiert, hatte ich das Gefühl, nicht zu genügen. Zwischen Zuschreibung, Verleumdung und vermeintlichen Erwartungen zu unterscheiden, und mich in diesem Spannungsfeld zu positionieren, war eine ständige Gratwanderung. Nachdem ich tausendmal gehört hatte, fremd zu sein, glaubte ich es selbst.
Die fehlende Repräsentation verstärkte dies nur. Fast nie sah ich im Schweizer Fernsehen eine Schwarze Mediensprecherin oder Journalistin, nie konnte ich eine Schwarze Ärztin konsultieren. Während meiner ganzen Schul- und Studienzeit erlebte ich eine einzige Schwarze (Gast-) Dozentin, ansonsten waren alle Lehrer*innen weiss. Ich habe nicht das Privileg, mich durchsichtig zu fühlen, in meiner Erscheinung der Norm und der Referenzkultur zu entsprechen. Ich falle auf, ich werde rassifiziert.

Doch unter all den People of Color werde ich als light skin Woman auf dem Arbeitsmarkt, auf Wohnungssuche etc. ebenfalls privilegiert behandelt. Je mehr eine Person den europäischen Idealen entspricht, desto weniger Vorurteile und Diskriminierung erfährt sie in der Regel. Die Dominanzkultur hat die Macht, Vorrechte zu geben oder zu entziehen. Dies zu erkennen und sich dessen bewusst zu werden, ist wichtig, um die Verletztlichsten in ihren Anliegen zu unterstützen und ihnen zu Plattformen zu verhelfen. Denn auch unter vermeintlich gleichgesinnten People of Color ist das Ausmass an Rassismuserfahrungen nicht kongruent.

Wer ist es überhaupt, der die Macht hat, ein «wir» und ein «die anderen« zu definieren? Die barbarische Vorstellung Menschen in verschiedene Rassen zu unterteilen und hierarchisch zu ordnen, ist konstruiert – warum hält Ungleichheit, Diskriminierung und systemischer Rassismus an? Und von wo bin ich denn, wenn ich nicht von hier sein kann?

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Dutzende Reisen führten mich als junge Erwachsene ins Land, wo der erste Präsident des unabhängigen Senegal und Dichter Leopold Senghor die Negritude feierte. In Dakar, das nicht nur das Eldorado der Schwarzen Intelligenzija sondern auch von Kunst und Kultur ist, lernte ich im Kreise der Familie meines jüngeren Bruders und von Freunden neue Wege und kulturelle Codes kennen. Eindrücke vom unermüdlichen Wirtschaften der Frauen, ihrer Noblesse und ihrem Selbstbewusstsein, über das Denken im Kollektiv und eine ausgeprägte alltägliche Spiritualität prägten für mich das Bild. Hier wollte ich mich fernab des Westens selber finden und den Lebenselementen auf die Spur kommen, die mir in meiner Kindheit verweigert blieben oder die ich selbst verweigerte.

Ich denke an den Moment, der die Grenzenlosigkeit von Freiheit und Inspiration enthüllte, als sich vor mir eine Lagunenlandschaft ausbreitete. Ich folgte dem Ruf der Trommeln und lief weiter ins Landesinnere. Doch auch im Senegal bringt mich die Herkunftsfrage unter Druck. Hier löst sie immer wieder unvermeidlich das Gefühl bei mir aus, mich zwischen den Kulturen entscheiden zu müssen.

Heute nehme ich es zum Anlass, koloniale und postkoloniale Strategien zu kritisieren, wenn ich mich mit der Schweiz und mit den frankofonen westafrikanischen Ländern, die meine Identität prägen und meinem Hobby, den Folkloretänzen, die mit westlichen Techniken spielen, auseinandersetze.

«Eine geballte Ladung Energie, Kraft und Lebensfreude kommt explosionsartig zum Ausbruch, wie ein Feuerwerk.» In etwa so beschreiben und bestaunen viele die senegalesische Tradition. Wenn sich die virtuosen Trommler*innen mit ihren Rhythmen gegenseitig anheizen und jede*r sein Können zum Besten gibt, entsteht musikalische Sprache. Die Tänzer*innen versammeln sich vor ihnen und den Schaulustigen und improvisieren nacheinander ihre Solos.

Darunter bin auch ich. Wenn mich die Trommeln rufen, zieht es mich in einen Sog. Sie heischen, ich folge. Auf «tass ba tass re» wirble ich gezielt mit meinen Armen. Gleichzeitig stampfe ich mit meinen nackten Füssen nach vorn und wieder zurück. Ich springe in die Luft. Mein rechtes Bein ist nach oben gestreckt. Mein Herz pocht. Ich lache. Energie strömt durch meinen Körper. Es geht nur einen Sekundenbruchteil, bis ich wieder lande. Mit einem improvisierten Solo antworte ich auf die Sabartrommeln. In diesem Fall tragen die Trommeln und der Tanz denselben Namen. Andere Szene, gleiche Leidenschaft. Ich pointe meinen Fuss, strecke mein Bein zur Seite aus, halte inne, atme und verbinde mich mit meinem Körper und der Musik von Djembe, Dundun und Kora. Ich rolle die Schultern immer und immer wieder. Ich springe hoch, als wollte ich den Horizont meines Lebens berühren. Meine Arme fliegen in die Luft. Ich fühle mich frei.

Jede Bewegung hat ihre Bedeutung. Sie ist Sprache in meinem Dialog mit den Perkussionistinnen und Perkussionisten. Während des Tanzens verliere ich sie nicht aus den Augen. Es ist ein Spiel, mal schnell, aufgeladen und temperamentvoll; mal gemächlich, gelassen und weich. Zwischen Gefühlen von Lebendigkeit, Kraft und Entspannung gibt der Rhythmus der Trommeln den Takt meines Lebens vor. Wenn ich tanze, bin ich.

Diese Hommage ans Tanzen hinterfrage ich heute. Meine Mehrfachzugehörigkeit schützt mich nicht davor, ebenfalls von diskriminierenden und rassistischen Strukturen geprägt zu sein. Welche Klischees über meine zweite Herkunft wurden mir in meiner Kindheit vermittelt? Was leitete mich in den Jugendjahren, dass ich mich zeitgenössischen und traditionellen afrikanischen Tänzen verschrieb? Ging ich auf der Suche nach meiner eigenen Identität unbewusst Stereotypen nach, die ich heute verurteile? Welche Bilder habe ich von der weissen Leitkultur übernommen und reproduziert? Stehen auch meine eigene Diskriminierungserfahrung sowie vermeintliche Attribute, die man mir zuschreibt damit in Verbindung? Und inwieweit sind kulturelle Parameter tatsächlich gestaltbar und transformierbar? Wer ist dafür verantwortlich, wenn es gelingt, postkoloniale Perspektiven zu dekonstruieren?

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Schritte einer Dekonstruktion finden aktuell mit der weltweiten black live matters Bewegung statt. Nur zu gut erinnere ich mich daran, wie meine Tante mich zu meinem Sommerurlaub in New York mit besorgter und mahnender Stimme begrüsste: «Wenn du in eine Polizeikontrolle gerätst, bleibst du stehen und hältst die Arme in die Luft. Mach, was die Polizei dir sagt und lass dich auf keinen Fall auf Diskussionen ein.» Sie drängte weiter: «Die Lage hier ist ernst.» Auf den Strassen von Harlem in New York City, unweit der Kreuzung von African Square und Dr Martin Luther King Jr Boulevard, habe ich vor fünf Jahren denn auch den Preis meines Hoodies ausgehandelt. Auf dem schwarzen Kapuzenpulli steht in grosser, weisser Schrift: «black lives matter». Dass diese Bewegung fünf Jahre später aktueller denn je ist, fühlt sich absurd an.

Die Ermordung von George Perry Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis durch einen weissen Polizisten ist der Auslöser dafür, dass am 13. Juni in Zürich über 10’000 Menschen auf der Strasse gegen Rassismus und Racial Profiling und für eine pluralistische Gesellschaft protestierten. Rassismus ist auch in der Schweiz die Lebensrealität von nicht-weissen Personen. Für mich ist es ein Demonstrieren gegen eine Leitkultur, in der ich nicht repräsentiert bin, in der meine Identität immer wieder hinterfragt wird und in der Weiss-sein als festgeschriebene Norm gilt. Dies ist der Hintergrund, weshalb die Hautfarbe im Verhandeln meiner Identität immer wieder eine dominierende Rolle einnimmt. Nicht zuletzt deshalb sind Kontakte und Beziehungen zu Menschen so wertvoll und stärkend, die ebenfalls Migrations- und Verwundbarkeitserfahrungen machen. Im digitalen Zeitalter ist die Vernetzung und gezielte Informationsbeschaffung für viele noch einfacher geworden. Wir Menschen definieren uns über bestimmte kulturelle, soziale und ökonomische Merkmale. Damit schaffen wir Zugehörigkeit. Es ist legitim, nach einem Umfeld zu streben, wo man sich verstanden fühlt und wo man Unterstützung erfährt. Menschen um sich zu wissen, mit denen man uneingeschränkt und gedankenlos genau die Person sein kann, die man ist. In sicheren und vertrauensvollen Räumen teilen wir Gedanken, Sorgen, Ärgerliches sowie Lustvolles. Wir (lassen uns) inspirieren und verbinden uns mit Mitmenschen. Gleichzeitig grenzen wir uns von anderen ab. Diese Gedanken über Zugehörigkeit münden in Taten, und immer lauter und kraftvoller fordern die Stimmen ein gleichberechtigtes Leben in Diversität.

Wie sieht ein Zusammenleben in Vielfalt aus, wenn Zugehörigkeit und Abgrenzung so bedeutsam für uns sind? Welche Bedingungen braucht der Mensch, damit er trotz kulturellen, biografisch geprägten und gefestigten Werthaltungen und Beziehungskreisen offen für eine vielfältige Gesellschaft sein kann und bleibt?

Welche postkolonialen Denkmuster herrschen in Ihrem Kopf? Was tun Sie dafür, diese Bilder zu dekonstruieren und neu zu denken? Welches Bild haben Sie von Herr und Frau Schweizer? Was braucht es, damit Sie inklusiver denken und handeln können?

[1]   Das gross geschriebene «S» vermittelt, dass es sich nicht um eine Farbe handelt.

[2]   Die Selbstbezeichnung «People of Color» soll die Gemeinsamkeit auszudrücken, die Menschen mit Rassismuserfahrungen mit einander verbindet.