Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
Eva Mackensen

«Die Aufführung ist ein Zwischenort»

Erika Fischer-Lichte, Professorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, forscht seit langem über die Aufführung. Mit Eva Mackensen sprach sie über die höchst aktive Rolle des Publikums, das merkwürdige Dazwischen des Theaterraums und die fragilen Machtrelationen, die in der Aufführung entstehen können.

EVA MACKENSEN: Frau Professor Fischer-Lichte, was ist eine Aufführung?

ERIKA FISCHER-LICHTE: Ich definiere eine Aufführung nach wie vor als das Zusammentreffen von zwei Gruppen von Personen, von Handelnden und Zuschauenden.

Dieses Zusammentreffen bezeichnen Sie mit dem Begriff der «leiblichen Ko-Präsenz». Die handelnden Akteure auf der Bühne sind aktiv, die Zuschauer passiv präsent?

Nein, man ist nicht passiv, wenn man zuschaut. Zuschauen ist eine Aktivität, die mehrere Sinne betrifft. Das Verb «zuschauen» ist eine Verengung: Ich höre auch, ich rieche – zum Beispiel diesen ganz eigenen Geruch der Bühne. Ich spüre etwas. Der ganze menschliche Leib ist beim Zuschauen involviert. Ich selbst habe mich im Theater auch noch nie als passiv empfunden, sondern hatte immer die unterschiedlichsten Aktivitäten zu entfalten.

Wenn man sich die europäische Theatertradition vergegenwärtigt, hat man aber durchaus den Eindruck, dass die Rolle der Zuschauer darin besteht, während der Aufführung möglichst passiv zu bleiben. Sie sitzen im Dunkeln, sollen still sein, nicht husten, nicht rascheln.

Wenn wir diese Situation im Theater einmal historisch betrachten, dann sehen wir, dass das früher ganz anders war. Bevor das elektrische Licht erfunden wurde, haben sich die Zuschauer im Raum auch gegenseitig gesehen. Sie haben sich unterhalten, haben gegessen und getrunken, kamen und gingen, wann sie wollten. In Deutschland wurde um 1800 herum eine Theaterpolizei eingeführt, weil die Zuschauer so laut waren!

Zumindest in der Aussensicht waren sie aktiver als wir heute.

Aktivität kann aber auch bedeuten, dass ich etwas sehr konzentriert wahrnehme. Dass ich versuche, eine Beziehung herzustellen zwischen dem, was ich hier, und dem, was ich dort wahrgenommen habe. Dass ich meinen Verstand gebrauche, um Bedeutungen aus meinen Wahrnehmungen zu generieren. In der Aufführung treffen zwei Gruppen von Personen aufeinander, die beide aktiv sind.

Und erst diese Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern bringt die Aufführung hervor?

Ja. Eine Aufführung besteht nicht aus dem, was zuvor inszeniert wurde. Wenn Sie in die – sogenannte – selbe Inszenierung viele Male gegangen sind, dann merken Sie das. Von Abend zu Abend ändern sich die Verhältnisse. Wenn ich an Schauspieler wie Lars Eidinger denke, der jeden Abend neue Einfälle hat, wie er auf die Zuschauer zugeht, und ihnen andere Reaktionen entlockt, so erscheint dies geradezu als prototypisch.

Ist eine Aufführung ohne Zuschauer überhaupt möglich?

Nein. Das wäre dann keine Aufführung. Die Akteure auf der Bühne brauchen den Blick von aussen, weil sie sonst gar nicht agieren könnten: Als Schau-Spieler müssen sie ihr Spielen vor anderen zur Schau stellen. Der deutsche Ausdruck ist so wunderbar, weil in ihm diese Beziehung zum Zu-Schauer bereits angelegt ist – anders etwa als im englischen actor, im französischen acteur, im italienischen attore, was alles einfach nur «der Handelnde» bedeutet.

Und andersherum: Eine Aufführung ohne menschliche Akteure? William Forsythe hat zum Beispiel eine Choreographie für riesige Maschinen gezeigt, die fest im Raum installiert, aber an Gelenken beweglich waren.

Um eine Installation im Raum kann man sich meistens herumbewegen. Dabei schauen einem die anderen Zuschauer zu, und man selbst schaut ihnen zu. Das ist eine Aufführung, insofern hier Interaktionen stattfinden.

In diesem Sinn lässt sich der Aufführungsbegriff auch auf andere künstlerische Ereignisse anwenden, etwa auf eine Ausstellung.

Unbedingt. Der Begriff ist nicht einmal an Kunstereignisse gebunden. Auch im Alltag, auf der Strasse, finden Sie diese Situationen: Ich schaue mir an, was einige Leute dort machen. Wenn diese sehen, dass ich ihnen zuschaue, entsteht spontan eine Aufführung. Diese Art der Interaktion finden Sie in der Politik, im Sport und vielen weiteren Lebensbereichen. Jeder Parteitag, jedes Fussballspiel kann als Aufführung gelten!

Ihrer Theorie zufolge sind Aufführungen von einem «merkwürdigen Dazwischen» charakterisiert. Was meinen Sie damit?

Damit beziehe ich mich nun tatsächlich vor allem auf künstlerische Aufführungen. Wenn Sie sich in einer Aufführung befinden, treten Sie in eine liminale Situation ein. Das ist ein Begriff, den ich aus der Ritualforschung entliehen habe. Er wurde durch den Ethnologen Victor Turner in den 1960er-Jahren geprägt. Turner bezeichnet damit einen Schwellenzustand, der den Übergang zwischen zwei Phasen in einem Ritual markiert.

Diese Schwellensituationen können Initiationsriten sein, oder Revolutionen. Zustände, die eine Gesellschaft oder ein Individuum für eine bestimmte Zeit destabilisieren. Wie lässt sich der Begriff der Liminalität auf die Aufführung übertragen?

Wenn Sie an einer Aufführung teilhaben, befinden Sie sich ebenfalls in solch einer Zwischensituation. Sie sind nicht mehr in Ihrem Alltagsleben, in dem Sie bestimmte Dinge zu einem bestimmten Zweck erledigen. Das, was Sie im Theaterraum tun, dient keinem bestimmten Zweck, sondern entfaltet seinen Sinn nur aus sich selbst heraus. Sie sind damit in einen fragilen, destabilen Zustand eingetreten, der zwischen zwei Zuständen Ihrer normalen Lebenswelt eingelagert ist. Wenn die Aufführung vorbei ist, treten Sie wieder in Ihren Alltag ein, aber er ist angereichert um die Erfahrung, die Sie in der Aufführung gemacht haben.

Das «Dazwischen» ist dann vor allem chronologisch definiert, als eine Art «Zwischenzeit»?

Für mich ist es in erster Linie ein räumlicher Begriff. Ich verlasse in der Regel mein Zuhause, ich bewege mich an einen anderen Ort. An diesem anderen Ort geschieht dann etwas. Das ist also ein Zwischenort, eine Zwischenstation. Die Rolle, die Sie dort spielen, weicht von Ihren Alltagsrollen ab. Sie spielen sie nur in diesem Raum, und in direkter Abhängigkeit von den anderen Akteuren.

Diese direkte Abhängigkeit des eigenen Spiels vom Spiel der Anderen wird in einer kurzen Beschreibung illustriert, die ich Ihnen vorlesen möchte. Sie stammt aus einem Text über machtmimetische Prozesse in der Aufführung, in dem der Theaterwissenschaftler Frank Richarz eine Situation aus dem Studienjahr 1997/98 schildert. Als einer der führenden Streikaktivisten seiner Hochschule hielt er damals eine Rede vor einer grossen Menschenmenge. Richarz schreibt:
«Jede Geste, jede Veränderung meiner Mimik, jede Betonung war unmittelbar verknüpft mit der körperlichen Reaktion des Publikums. Ich spürte, wie ich die Stimmung der Menge anheizen konnte […], wie ich sie beruhigen konnte […], wie ich sie zum Lachen, Johlen und Brüllen bringen konnte, indem ich mich auf der Bühne entsprechend inszenierte. […] Es kam mir so vor, als wäre ich ein Marionetten-Spieler, der das Publikum […] in seiner Hand hielt.»

Die Rolle, die Richarz hier beschreibt, ist die eines politischen Redners. Der politische Aktivist versucht, die Zuhörer zu überzeugen. Erstens davon, dass er recht hat, zweitens davon, dass sie eine bestimmte Handlung ausführen sollen, zum Beispiel die, ihm seine Stimme zu geben.

Richarz beschreibt aber doch vor allem eine Situation, in der der Akteur Macht über sein Publikum ausübt, es scheinbar nach Belieben dominiert. Sind wir hier schon nah am Spektakel?

Das würde ich damit nicht unbedingt in Verbindung setzen. Ein Spektakel ist zunächst einmal einfach ein bestimmtes Genre von Aufführung. Etwas, das in besonderer Weise die Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit der Zuschauer herausfordert und auf sich zieht. Interessant ist, dass der Begriff häufig dazu benutzt wird, das bezeichnete Ereignis abzuwerten. Dabei sagt er über dessen Wert überhaupt nichts aus.

Die Frage, ob wir es mit einem Spektakel zu tun haben oder nicht, ist bloss eine der Intensität?

Ja. Die Aufführung ermöglicht unterschiedliche Grade der Aufmerksamkeit, unterschiedliche Grade des Affiziert-Seins. Denken Sie einmal an Brechts Theatertheorie. Brecht wollte nicht, dass die Zuschauer vom Geschehen auf der Bühne überwältigt werden. Sie sollten sich davon distanzieren, mitdenken. Und dann gibt es andere Arten von Aufführungen, die den Zuschauern diese entspannte, distanzierte Haltung verunmöglichen. Sie werden vom Geschehen einfach mitgerissen, so wie die Menge, vor der Richarz spricht.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Richarz seine Beschreibung der Situation fortsetzt. Er bemerkt – und das war für mich relativ überraschend – er habe nach seinem Auftritt kein Triumphgefühl verspürt, sondern Ekel. Er sei sich vorgekommen wie ein «Polit-Performer», der «vom Begehren des Publikums gesteuert» gewesen sei.

Wir haben es hier mit einem Intellektuellen zu tun, der auf gar keinen Fall wie ein Volkstribun auftreten will. Aber dann entsteht eine Dynamik, der er sich nicht entziehen kann, und er übernimmt genau die Rolle, die er eigentlich ablehnt. Das zeigt, wie abhängig man in seinen Aktionen und Reaktionen von denjenigen der Anderen ist.

In diesem zweiten Teil der Beschreibung von Richarz vollzieht sich ja beinahe so etwas wie ein Achsensprung im Film: Wir sehen das Geschehen aus der entgegengesetzten Perspektive, und erkennen, dass es das Publikum war, das Macht über den Performer hatte, nicht umgekehrt.

Machtverhältnisse in einer Aufführung werden nie eindeutig und unabänderlich zugunsten der einen oder der anderen Gruppe entschieden. Sie können immer kippen, sich von Moment zu Moment verändern. Sie lassen sich nicht festschreiben, weil sie immer neu ausgehandelt werden. Richtig ist aber, dass der alte Satz, die Schauspieler hätten Macht über die Zuschauer, nur die halbe Wahrheit ist. Die Zuschauer haben auch Macht über die Schauspieler.

Christa Binswanger ist Leiterin des Fachbereichs Gender und Diversity an der Universität St. Gallen.