Der Totentanz ist zurück
Frühkommentar zu «Danse Macabre» von Martin Zimmermann
Vorhang auf! Zum Vorschein kommt viel Unrat, Karton, Müll – ein sargähnliches Gebilde auch, das sich im Rhythmus menschlichen Atmens auf und ab bewegt. Damit stehen zwei Figuren und Sinnbilder von Leben und Tod im Fokus; beide zusammen. Was wäre die eine ohne die andere? Schon bevor die ersten Menschenfiguren auftreten, sind wir mittendrin im Stück, im Thema des «Danse Macabre», in der Begegnung von Menschen mit dem personifizierten Tod. Und im Schauen, Kombinieren und Deuten.
Nun schält sich ein zähneklappernder Knochenmann im Skelettkostüm (Martin Zimmermann) aus dem Unrat und tritt als heimlicher Zeremonienmeister auf. Einer schwebenden wippenden Wohnkiste entsteigen ein Alter mit Glatzkopf und Schwabbelbauch (Dimitri Jourde), eine braungelockte Dragqueen (Tarek Halaby) sowie eine junge Frau in blasser Trainingsmontur (Methinee Wongtrakoon). Allesamt Figuren am Rand der Gesellschaft, voll konzentriert auf ihr Ding, alle auch irgendwie verschroben.
Diese Figuren inszenieren ihren «Danse Macabre» zum Soundtrack des Jazzpianisten Colin Vallon und spinnen die Tradition des Totentanzes weiter. Zur Tonspur des Herzschlags und der Wehen wird geboren – aber auf die Bühnenwelt kommt kein Kind, sondern ein Stoffbündel. Ein Kapuzenpullover. Die junge Frau zieht ihn an und verkriecht sich darin, ehe sie in einer hinreissenden Performance Figuren generiert, die mal menschlich, mal tierisch, mal leblos aussehen.
Diese Szenen lassen sich als Geburt des Theaterspiels lesen, als tranceartige Feier der Bühnenkunst als Mittel zur Verwandlung und Verwirrung. Die Zuschreibungen geraten in Fluss, im (Lebens-)Spiel liegt die Möglichkeit, die Conditio humana – die Bedingung des Menschseins – nicht zu überwinden, wohl aber artistisch und (selbst)ironisch zu kommentieren. Zuerst mit einem zwinkernden Auge, zum Schluss mit einem skelettartigen Lachmund.
Zwar denken wir Spätmodernen völlig anders als im Spätmittelalter, als sich der Totentanz und seine Motive rasch ausbreiteten. Aber die Corona-Pandemie, der Klimawandel oder das sich rasant ausbreitende Gefühl, den Boden (der Gewissheiten) unter den Füssen zu verlieren, wirken; unmittelbar und nachhaltig. Das Bewusstsein von der menschlichen Vergänglichkeit, vom plötzlichen Kontrollverlust und von der Conditio humana ist überall präsent.
Damit ist auch der Totentanz wieder aktuell – auch in den Kulturagenden. Das zeigt sich zum Beispiel an der letztjährigen Ausstellung im Kunstmuseum Chur, wo «Dance Me to the End of Love. Ein Totentanz» einen grossen Bilderreigen zum Thema präsentierte. Dort waren auch Fotos von Totentanz-Figuren von Harald Naegeli zu sehen, die während des Shutdowns vom Frühling 2021 entstanden waren. Und nächstes Jahr steht im Kölner Museum Schnütgen eine Ausstellung über die Werke des «Sprayers von Zürich» auf dem Programm. Auf der Flucht schuf Naegeli in der Domstadt am Rhein 1980 seine frühen Versionen des Totentanzes.
Nun aber zurück zum «Danse Macabre» auf der Müllhalde, die auch an Samuel Becketts «Fin de partie» erinnert. Der Tanz pendelt zwischen «I Feel Amazing» und «Keep on Falling», Zitaten aus zwei Liedern in der weitestgehend wortlosen Aufführung. Das Pendeln der Stimmungen passt zum Wippen der schwebenden Wohnkisten und die beiden Befindlichkeiten spiegeln Wunsch und Wirklichkeit, Bemühen und Scheitern wider. Und mit Blick auf die Conditio humana heisst es doch schon bei Beckett: «Try Again. Fail Again. Fail Better.» Der Vorhang zu diesem Stück fällt nie.
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Der Bühnenkünstler Martin Zimmermann (*1970) ist Regisseur, Choreograf und Schauspieler in einer Person. Nach seiner Ausbildung an der Hochschule Centre National des Arts du Cirque (CNAC) in Paris machte er sich international schnell einen Namen. Zimmermanns Schaffen zeichnet sich aus durch eine unverwechselbare Mischung aus Absurdität, Humor und Magie, das ein breites Publikum in den Bann zieht. In seinem neusten Werk «Danse Macabre» steht er zusammen mit den Zirkus-Theater-Talenten Tarek Halaby, Dimitri Jourde und Methinee Wongtrakoon auf der Bühne. Das Stück feiert am Zürcher Theater Spektakel Premiere und geht anschliessend auf Europatournee.
Spezialausgabe
Figuren des Figurierens
Patrick Tschirky (*1972) ist Germanist und Historiker, arbeitet als Dozent am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW und am Master Kulturpublizistik der Zürcher Hochschule der Künste.