Das Zweite Gebot
Dieses Bild erscheint online.
Sein Medium ist der Bildschirm.
Was ist ein Bildschirm?
Ein Schirm schützt.
Zum Beispiel vor dem Regen.
Dann ist es ein Regenschirm.
Schützt er vor der Sonne,
ist es ein Sonnenschirm.
Schützt der Bildschirm vor dem Bild?
In den Virungas, in den Regenwäldern des Vulkan-Gebirges im Grenzland zwischen Uganda, dem Kongo und Ruanda leben Büffel, Chamäleons und die Berggorillas.
Nach drei Stunden Aufstieg durch die Nebelwälder stehen die Gorillas vor uns. Sie sitzen im hohen Gras. Wir betrachten sie mit Ehrfurcht, mit Sorge und Bewunderung. Wir Menschen sind ihnen gleichgültig. Bloss ein mächtiger Silberrücken lässt uns nicht aus den Augen. Wir weichen seinem Blick aus und starren auf die Bildschirme unserer Kameras. Derselbe Gorilla erscheint, verkleinert, auf die Grösse einer Fingerkuppe geschrumpft und gebändigt. Ein Trost, eine Zähmung. Der Bildschirm schützt vor der Wirklichkeit, vor der Präsenz des Bildes, vor dem Gorilla.
Die Griechen nannten ihre Schrift die «Phönikische Schrift», so wie wir unsere die «Griechische» nennen. Diese Herkunft ist erkennbar: Der Buchstabe «A» steht für «Aleph», und «Aleph» steht für «Ochse». Drehe den Buchstaben «A» hundertachtzig Grad auf den Kopf. Siehst du den Ochsenkopf, siehst du die beiden Hörner?
«Du sollst dir kein Gottesbild machen
und keine Darstellung
von irgend etwas am Himmel droben,
auf der Erde unten
oder im Wasser unter der Erde.»
Die Bibel, Altes und Neues Testament;
Einheitsübersetzung; 1980; Herder, Freiburg, Basel, Wien
Althebräisch gehört zur semitischen Sprachfamilie. Die Ursprünge dieser Schrift liegen in Phönikien.
Das Alphabet, mit dem das Zweite Gebot geschrieben wurde, besteht aus heidnischen Zeichen. Wie könnte jenen, die Elohim, Gott, dem Herrn, folgen und sich an das Verbot halten wollen, erlaubt sein, heidnische Bilder zu benutzen, wie könnte es ihnen erlaubt sein, zu schreiben und zu lesen? Aber selbst, wenn diese Schrift aus Zeichen ohne Weltbezug bestünde, würden dieses Zeichen ein Bild entstehen lassen. Wir nennen den Raum, in den die Schrift und die Sprache weisen, die Vorstellung oder die Imagination, in der die Imago, das Bild, vorgestellt wird.
Sind Leser*innen und Schriftsteller*innen gottlos, verstossen sie gegen das Zweite Gebot? Und wäre ein Ausweg, wenn Gott selbst das Wort wäre? Dann wäre das Wort selbst göttlich. Vergleiche hierzu: Johannes-Evangelium, Kapitel 1, Vers 1:
«Im Anfang war das Wort, / und das Wort war bei Gott, / und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden / und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.»
Gott kommt nicht ohne Bild aus, nicht ohne das Auge. Das erste Wort war ein Bild, und es war göttlich, und weil dieser Gott sein Gegenteil enthält, nämlich den Teufel, so enthält jedes Bild ein Gegenbild. Das böse Bild. Jeder kennt ein böses Bild. Auch du! Ist es nicht sinnvoll, sich vor dem bösen Bild zu schützen mit einem Bildschirm?
Aus den prophetischen Büchern sei bekannt, so das «Jüdische Lexikon», erschienen in Taunus bei Frankfurt im Jahr 1927, im Jahrzehnt vor der Vernichtung der europäischen Jüd*innen, wie oft gegen das Verbot gefehlt wurde. Die Cherubim an der Bundeslade und in den Teppichen der Stiftshütten, die Tiergestalten am Ehernen Meer und im Tempel Salomos würden zeigen, dass nur die Darstellung von Götzenbildern verboten war. Später milderte der Talmud das 2. Gebot durch drei Ausnahmen. Wissenschaftliche Darstellungen, Abbildungen von Tieren und Pflanzen wurden erlaubt und andere Bildnisse nur verboten, wenn ihre Figur eine leiblich hervortretende Gestalt (haut relief) ist. Sonne, Mond und Sterne sind erlaubt, wenn sie gezeichnet, gemalt, eingewirkt und eingestickt wurden.
Glück gehabt!
Sheets:
Lukas Bärfuss
in Zusammenarbeit mit
der Gruppe «Legenden»
der Zürcher Hochschule der Künste,
in der Fotostiftung Schweiz, Winterthur
13. März 2024
Die Ausstellung «Legenden», in der Arbeiten aus dem hier dokumentierten Forschungsprojekt gezeigt wurden, fand, mitverantwortet von Annette Amberg, im Sommer 2022 statt:
https://www.coalmine.ch/event/legenden/.
In der Fotostiftung Schweiz waren wir im April 2023 zu Gast. Wir recherchierten, unterstützt von Peter Pfrunder und seinem Team, in den fotografischen Archiven von Marie Ottomann-Rothacher (1916-2002)
https://fss.e-pics.ethz.ch/main/galleryview/fc=14%3A2198
und von Peter W. Häberlin (1912-1953)
https://fss.e-pics.ethz.ch/main/galleryview/fc=14%3A696
Die Kritik der Begriffe übten wir im kolloquialen Gespräch. Und leitete der Methodenpluralismus und die Explorative Lektüre.
Spezialausgabe
Legenden
Lukas Bärfuss (*1971) ist Schriftsteller, vertreten in der Ausstellung „Gastspiel“ und beteiligt an der Entstehung von Zollfreilager.