Das Natternhemd,
in dem ich wohne
Berühren, pulen, quetschen, kratzen. Skin Picking Disorder ist eine Impulskontrollstörung, bei der die Betroffenen zwanghaft die eigene Haut bearbeiten.
Doch der unwiderstehliche Wunsch, seiner Haut zu entfliehen, sie abzustreifen und sich zu häuten, ist auch abseits dieser Erkrankung nicht fremd. Ein Versuch, sich den unserer Gesellschaft inhärenten Häutungsprozessen zu nähern und den Schlangen des Grossstadt-Jungels auf die Spur zu kommen.
Es ist schwül, da, wo du bist. Schweisstropfen bilden sich auf deiner Oberlippe, rinnen über deinen Rücken, die Schulterblätter entlang bis zum Kreuz, versickern in deinem T-Shirt. Das dichte Grün vor dir verschwimmt im Dunst. Streckst du die Hand aus, spürst du den Tau auf den Blättern. Du führst den Finger zum Mund und schmeckst den Dschungel um dich herum. Es raschelt, dein Herz pocht. Was war das? Du trittst ein paar Schritte zurück und strengst deine Augen an. Und zurück starrt ein weiteres Paar Augen – giftgrün. Doch statt Pupillen sind da Schlitze, wie zwei kleine Messerschneiden stechen sie in deine Augen. Plötzlich bereitet dir die drückende Schwüle keine Mühe mehr. Der Dschungel ist dein Zuhause. Das Nass perlt nun nicht mehr von deiner Haut, sondern deinen Schuppen. Das Rascheln der Blätter stammt nun von dir, du bist es, die durch das Dickicht gleitet. Doch deine Augen verlieren allmählich ihre Sehkraft. Ein Schleier legt sich davor, trübe wird dein Blick. Weisslich, bläulich. Unter deinen Schuppen bildet sich eine milchige Unterlagerung. Du weisst, bald steht dir die Häutung bevor.
Zurück in der Grossstadt. Oder bist du dem Dschungel nie entkommen? Auch hier gibt es sie, die Schlangen. Mitten unter uns, getarnt. Von dem Häutungsprozess, der gestern spät in der Nacht stattgefunden hat, ist nichts mehr zu sehen. Die Haut scheint neu, rosig, die Wunden, die vom Akt zurückgeblieben sind, gut unter der zweiten Haut versteckt. Unter Pullovern die Kratzmale, unter Socken und zugeschnürten Schuhen die Einkerbungen. Einzig das Gesicht liegt brach, Hände, die immer wieder nach oben schnellen, der verzweifelte Versuch, auch diese Schandmale zu kaschieren. Aber dann werden die Finger sichtbar, die Haut um die Nägel tief eingerissen. Rote Striemen überall. Narben, die aussehen wie ausgetrocknete Flüsse. Flüsse, die am Vorabend mit einer anderen Flüssigkeit gefüllt waren.
Die psychische Erkrankung Skin Picking Disorder ist auch unter dem Fachbegriff Dermatillomanie bekannt, der sich aus den griechischen Wörtern «Derma» (= Haut), «tillein» (= rupfen) und «Mania» (= Begeisterung, Wahnsinn) zusammensetzt. Von Skin Picking betroffene Personen bearbeiten ihre Haut mit Fingern, Pinzetten, Nadeln oder anderen spitzen Gegenständen, sodass Wunden, Narben und manchmal erhebliche Gewebeschäden entstehen. Die Betroffenen folgen dabei einem Impuls, dem sie kaum widerstehen können. Oftmals leiden sie auch unter weiteren psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen.
Ich humple. Jeder Schritt tut mir am nächsten Morgen weh. Ich spüre genau, wo meine Haut am Vorabend aufgerissen ist. Quer über die Fusssohle mäandern die Wunden, die nun pochen – pochen bis in meine Ohren. Sieht es mir jemand an? Sieht jemand, dass ich auf Fetzen gehe? Ich denke, ich bin schlau. Das Gesicht, die Hände, die Arme, die Beine sehen unauffällig aus. Ein wenig blass, wenn du mich fragst. Meine Füsse werden höchstens beim Schwimmen bemerkt, diese komisch aufgeschwemmten Wunden – und dann erzähle ich das Märchen von der Verbrennung, an irgendeinem Herd, irgendeinem heissen Ort. Es ist schon witzig, was Menschen glauben wollen, um Normalität zu bewahren. Doch die Wahrheit ist, dass am Vorabend die Fetzen geflogen sind. Wie in Trance zerfleische ich mich selbst. Dabei rieseln meine Überbleibsel leise auf den Boden. Meine Sorgen aber bleiben an mir kleben. Gallertartig bedecken sie meinen ganzen Körper – wie die Wundflüssigkeit, die jedes Mal zurückbleibt.
Was passiert mit diesen Überbleibseln? Sie verschwinden in den Dielen, in den Ritzen dazwischen, werden davongespült – immer wieder muss das Bettlaken in die Wäsche – die Überbleibsel müssen beseitigt werden. Irgendwo muss es einen Ort geben. Einen, von dem sie nicht weggewaschen werden können. Einen Ort, wo sie sich sehnen, wieder Teil unserer Körper zu sein. Ein Dschungel voller Fetzen. Lianen, die aus uns selbst entstehen, nach unten baumelnd. Da raschelt es wieder – da bin ich – da bist du. Du schaust dich um in dieser Welt, die aus dir entstanden ist. Erkennst du dich wieder? Erkennst du die Überbleibsel deines Selbst? Erkennst du deine alte Haut, die du dir gewaltvoll abgestreift hast?
Die Betroffenen empfinden das Bearbeiten ihrer Haut als angenehm und entspannend. Sie befinden sich währenddessen in einem tranceähnlichen Zustand, in dem sie warnende Gedanken und negative Konsequenzen ignorieren. Die Handlung ist wie ein Ventil, das überwältigende Gefühle wie Stress, Wut und Trauer ablässt. Erst wenn der ekstatische Schub vorbei ist, können die Betroffenen die Finger von der eigenen Haut lassen – Reue und Scham machen sich nun bemerkbar.
Dein Körper schiebt sich weiter durch das Unterholz, das Feucht der Erde dicht gegen deinen Bauch gedrückt. Du nimmst jede Bewegung mit deinem Körper wahr. Hören tust du nicht, zumindest nicht so, wie du es gewohnt warst. Wenn eine Schallwelle deinen Körper erreicht, werden die Schwingungen an dein Innenohr weitergeleitet, welches über einen Nerv mit deinem Gehirn verbunden ist. Der Dschungel ist laut heute. Eindrücke prasseln auf dich ein – dein Gehirn vibriert konstant. Alles reizt dich. Kann man diese Sensoren auch lahmlegen? Diesen Nerv zum Gehirn kappen? Deine Reisszähne stossen durch das Zahnfleisch, berühren deine Lippen, ritzen sie auf. Du schmeckst Blut. Dein Blut. Dein Blick ist trübe, du krümmst dich. Doch du kannst deine Hände nicht über deinen Kopf zusammenschlagen, du hast keine. Rasend vor Schmerz ist es dir jetzt egal, wer oder was dir gegenübertritt. Hauptsache, du kannst deine langen Eckzähne in dein Gegenüber schlagen, um das Gift, das schon so lange in dir pumpt, zu entladen. Weg damit, soll sich jemand anders darum kümmern. Dich geht das jetzt nichts mehr an. Krepier doch.
Aber das passiert nicht. Du bist nicht im Dschungel. Die Eckzähne bleiben kurz und stumpf, die Haut häutet sich nur, wenn dich der Drang überkommt, und das Gift pumpt weiter in deiner Blutbahn, vergiftet deinen Körper und deine Gedanken, die sich schon lange gegen dich wenden. Dein Gift kannst du bei niemandem abladen ausser bei dir selbst. Eine Giftdeponie in deinem eigenen Fleisch und Blut.
Wohin gehst du, um dich zu häuten? In eine dunkle Ecke, wie ein verwundetes Tier? Die Wunden leckend, kauernd, die Ohren gespitzt, niemand soll dich in dieser Stellung finden. Als wäre dein Innerstes nach aussen gekehrt, entblösst, nackt und so zerbrechlich. Teilst du deine Wunden mit deinen Nächsten? Bist du ein Rudel-Tier, musst du dich beweisen? Nichts kann dir etwas anhaben, also häutest du dich nur in der Nacht, unter der Decke, und in der Früh musst du alle Beweismittel vernichten – das Laken in die Wäsche, deine Haut fällt in Fetzen von dir ab, während du dich duschst, dann schaust du in den Spiegel und probst dein bestes Lächeln. Schlangen gibt es nicht, zumindest nicht am Tag, nicht hier, nicht du.
Die Zeit, die pro Tag für das Bearbeiten der Haut aufgewendet wird, variiert von Mensch zu Mensch und ist auch nicht jeden Tag gleich. Eine Skin-Picking-Episode kann von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden dauern.
Die meisten Betroffenen durchlaufen täglich mehrere Episoden – das können im Extremfall bis zu 150 Episoden am Tag sein.
Schlangen häuten sich in den ersten zwei bis drei Jahren ihres Lebens besonders häufig, die ersten Monate alle vier Wochen. Haben Schlangen Wachstumsschmerzen? Wie wir zieht sich auch die Schlange zurück, um sich zu häuten. Die Haut wird trübe und trocken, die das Auge bedeckende Schuppe, auch Brille genannt, milchig, bläulich, weisslich. Es macht den Anschein, das Reptil sei erblindet. Die Häutungsmilch bildet sich unter den Schuppen, wobei sich die innere Oberfläche der alten Hautschicht verflüssigt. So kann sich die alte Haut von der neuen trennen. Nach einigen Tagen werden die Augen klar, die Haut bricht am Maul auf und die Schlange windet sich aus ihrem alten Kleid, ihrer zu klein gewordenen Haut – dem Natternhemd, wie die abgeworfene Schlangenhaut auch bezeichnet wird. Zum Vorschein kommt nun die neue, grössere und hellere Haut.
Wieso häute ich mich so häufig? Wieso sind meine Episoden täglich? Ich wachse doch gar nicht mehr. Und wenn doch, wächst meine Haut mit mir mit. Dehnt sich aus über meine Knochen, straff und rosig, bis sie irgendwann zu gross für mich sein wird. Vielleicht besitze ich eine zweite Haut. Eine Haut, die ich immer wieder abwerfen muss – ein Natternhemd, das stetig aufs Neue wächst, welches mir immer wieder zu klein wird. Versteht doch, ich muss das tun. In dem Moment macht es mir beinahe Spass. Die Haut, die unter dem Natternhemd zum Vorschein kommt, ist neu, unverdorben. Doch sobald ich mich aus dem alten Kleid gewunden habe, übermannt mich das Natternhemd erneut und nur das Häuten hindert mich daran, an ihm zu ersticken. An ihm und all diesen Gedanken, die es mit sich bringt.
Ich denke, ich bin glücklich, dabei bin ich traurig. Ich denke, ich bin glücklich, dabei bin ich – traurig. Trauer. Melancholia. Die Schlangen unserer Gesellschaft sind depressiv, sie nennen es Melancholie und kauen an ihren Fingernägeln. Können Schlangen weinen? So richtige Krokodilstränen? Zwischen der Schuppe auf ihren Augen, der Brille und ihrer Hornhaut befindet sich ein mit Tränenflüssigkeit gefüllter Spaltraum. Dieser ist über einen Kanal mit dem Rachen verbunden. Vielleicht weinst du, die Tränen versiegen aber immer nur in deinem Mund.
Die Augen quellen über. Flüssigkeit rinnt in deinen Rachen. Ich denke, ich weine, dabei ertrinke ich. Ich denke. Ich denke. Ich denke. Und komme niemals zu einem Schluss. Ich liege im Bett. Fetzen um mich herum. Ich liege im Bett, Fetzen, die mich mit sich ziehen wollen. An diesen Ort des Unsagbaren. An einen Ort, an dem es nur Fetzen gibt. Und mich. Aufgelöst in Fetzen, in Einzelteilen. Wo sind meine Arme? Wo sind meine Hände? Wo sind meine Tränen? Sie schlängeln sich durch den Alltag und meinen etwas anderes zu sein, als sie vorgeben. Wann bin ich das, was ich vorgebe? Was ich im Alltag bin? Wann höre ich auf, nur Fetzen meiner selbst zu sein?
Ich schreibe diese Zeilen und häute mich. Oder bin kurz davor, die Häutungsmilch scheint unter meiner Blässe hervor. Milchig, trüb meine Augen. Verschwommen sehe ich, und hören tu ich schon lange nicht mehr. Wenn ich schreibe, dann häute ich mich. Es überkommt mich wie in Trance, ich kann nicht aufhören. Immer weiter und weiter treiben mich meine Zeilen. Ich muss es vor euch tun, es tut mir leid, ihr seid meine Komplizen, es ist nichts Persönliches. Ihr seid meine Augen, meine Ohren – durch euch schmecke ich den Dschungel, der uns alle umgibt. Durch euch beginne ich zu verstehen. Und auch wenn ihr nicht auf Fetzen geht – das mit Schuppen versehene Reptil regt sich bereits unter eurer Haut und wartet darauf endlich sein Natternhemd ablegen zu können.
Illustration: Taddeo Lorenzo Motta
Spezialausgabe
nass
Norma Eggenberger (*1996) lebt in Zürich und studiert im Master Kulturpublizistik an der ZHdK. Nebst ihrer Arbeit in der Zollfreilager-Redaktion widmet sie sich Filmkritiken und ist in der Designagentur Studio Way tätig.