Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
Hannah Grüninger

Das Gefühl, das man hat, wenn man Wolken anschaut. Interview mit dem Künstler John Chiara

Mit seinem Pick-up fährt er zum letzten Mal die Rampe hoch auf die Schnellstrasse. Entflieht dem schwarzen Tal in Richtung Chur, Zürich, Flughafen und zurück nach San Francisco – die Heimat ruft. Viereinhalb Monate hat John Chiara im Unterengadin verbracht. Den grössten Teil davon im Künstlerhaus der Fundaziun Nairs. Das alte Badehaus liegt unten am Inn, wenige Kilometer vor Scuol. Seine Fotografien, eingefangen mit einer selbstgebauten 127 x 76 cm grossen Camera Obscura, bleiben aber. Sie sind noch bis Mitte Oktober in der Kunsthalle der Fundaziun ausgestellt.

John Chiara sitzt in seinem Wohnzimmer. Es ist ein Uhr nachmittags und die Hitze drückt. Ich bin in meinem Atelier, der Fluss rauscht auch nachts und wenn man nach der Uhr geht, welche direkt über dem Eingang der Fundaziun Nairs hängt, ist es wie immer – fünf nach acht. Zeit spielt hier keine Rolle. Auch John hat sich ihr lange entzogen.

HANNAH GRÜNINGER: John Chiara, hat dich das Heimweh zurück in die Staaten gezogen?

JOHN CHIARA: Meine Familie war der tatsächliche Grund, zurück nach Kalifornien zu reisen. Sie wollten, dass ich nach Hause komme. Ich bin glücklich, wieder hier zu sein. Und sie sind glücklich, dass ich zurück bin. Sie haben sich Sorgen gemacht.

Erzähl mir von deiner Zeit in der Fundaziun Nairs.

Am 2. März 2020 bin ich dort angekommen. Vorgesehen war, dass ich bis anfangs Juni bleibe. Zu Beginn waren wir zwischen neun und zwölf Personen. Wir hatten eine gute Zeit zusammen, das Haus war belebt. Dann kamen aufgrund von Covid-19 die Grenzschliessungen, fast alle sind abgereist. Das war eine grosse Veränderung. Danach fühlten wir restlichen vier uns etwas isoliert da unten. Ich war der Einzige mit einem Auto, auf dem ich meine Kamera Obscura befestigt hatte. Als wir am 31. April alle definitiv ausziehen mussten, waren wir darauf vorbereitet und zu diesem Zeitpunkt auch bereit dazu. Die kommenden beiden Monate habe ich in Scuol verbracht. Die Dunkelkammer in Nairs durfte ich weiterhin benutzen, damit ich meine Arbeit fortsetzen konnte.

Du bist dem Tal dann doch noch entkommen.

Möglicherweise wäre ich sogar länger geblieben. Einmal, auf dem Rückweg von Zernez, hat mich ein Polizist angehalten, ziemlich sicher aufgrund meiner ungarischen Autonummer. Vor Scuol war ich in Budapest. Er hat mich gefragt, was ich mache und ob ich eine Erlaubnis habe, hier zu sein. Das wusste ich nicht mit Sicherheit, meine Aufenthaltsbewilligung galt nur für 91 Tage. Danach habe ich mich beim kantonalen Migrationsamt angemeldet. Auf einmal bekam ich Angst, ich würde keine neue Bewilligung mehr bekommen. Ich habe dem Amt noch einmal geschrieben, doch keine Antwort mehr bekommen. Es war an der Zeit, nachhause zu gehen. Als ich meinen Flug gebucht habe, dachte ich, dass er nicht stattfinden wird. Manchmal habe ich mir das vielleicht sogar ein bisschen gewünscht. Schlussendlich waren wir vierzig statt vierhundert Passagiere im Flugzeug von Amsterdam nach San Francisco.

Bist du dort zu Hause? Und was bedeutet dir Heimat?

Mein Daheim ist definitiv in San Francisco bei meiner Familie. Hier wollte ich immer leben, hier fühle ich mich sehr verbunden mit der Stadt und den Menschen. Hinzu kommt, dass ich ‹ San Francisco Bay›  über die Jahre so oft fotografiert und mich mit der Gegend identifiziert habe. Ich verliebe mich sehr schnell in Orte, wenn ich sie fotografiere. Durch meine künstlerische Arbeit fühle ich mich lebendiger und verknüpft mit dem, was ich darstelle. Es ist eine Art Kommunikation mit Orten. Weil ich das in San Francisco schon sehr lange mache, hoffe ich manchmal, mich noch einmal neu in die Stadt verlieben zu können. Zurzeit bin ich verliebt in Mississippi. Ich reise viel, vor allem in Amerika. In den letzten fünf oder sechs Jahren hat sich meine Vorstellung von Zuhause auch verändert. Ich habe eine starke Verbindung zum nördlichen Mississippidelta entwickelt und zog es schon in Betracht, dort ein Haus zu kaufen.

In San Francisco habe ich seit zwanzig Jahren dieselbe Wohnung. Hier bin ich verknüpft mit einer Künstlergruppe, die zusammenlebt. Mit dabei sind auch sechzig- und siebzigjährige Leute. Wir wissen nicht, wie lange wir das beibehalten können, denn San Francisco ist unglaublich teuer. Ohne dieses Haus wäre es unmöglich für mich, hier zu leben. Auch wenn ich mich verwurzelt fühle, stört es mich sehr, dass das Leben hier so schwierig ist. Es ist ein Ort für Durchreisende. Wenige können für längere Zeit bleiben. San Francisco befindet sich konstant im Umbruch. Man baut Beziehungen zu Menschen auf, die dann aber meistens weiterziehen. Bis auf ein paar wenige mussten beinahe alle meine Freunde die Stadt verlassen. Und wenn man immer derjenige ist, der verlassen wird, ist das traurig.

War das Engadin auch ein Zuhause für dich?

Ich war sehr glücklich dort und es kam mir so vor, als wäre ich gefestigt und sicher. Mein Fokus lag auf meiner Arbeit und der Interaktion mit der Umgebung. Ich wusste, dass ich auf eine Art ein Fremder war. Ich spreche nicht gut Deutsch. Aber etwas, was Covid-19 mit sich gebracht hat, ist ein neues Gemeinschaftsgefühl – weil es alle gleichermassen betrifft. In der Fundaziun Nairs waren wir sowieso alle unterschiedliche Fremde. Beim Einkaufen in Scuol wurde ich nach einer gewissen Zeit nicht mehr als Tourist wahrgenommen. Letztendlich gesehen war es eine erfüllte Erfahrung. Es hat mir sehr viel bedeutet.

Was ist dir geblieben?

Die Zurückgezogenheit hat mich beeindruckt. Auf einmal beginnt man, Dinge anders zu betrachten. In den Hügeln hatte ich dieses überwältigende Gefühl, dass alles lebendig ist. Es gibt Stellen, an denen sehr viel Geröll herunterkommt. Dann sehen die Berge so aus, als würden sie weinen. Jedes Mal, wenn ich einen Ort noch einmal aufsuchte, hat er sich bereits verändert. Ich bin eine Verbindung mit der Umgebung eingegangen. Ganz am Schluss habe ich mir – gerade auch durch die Arbeit – wirklich ein eigenes Zuhause geschaffen.

In deiner Arbeit fängst du Orte wie Gefühle ein. Was ist dein Interesse?

Ich möchte nicht einfach nur Wolken einfrieren. Es geht mir um das Festhalten der Erfahrung, Wolken anzuschauen. Meine Fotografien erzählen von den Gefühlen, die man während einer Erfahrung macht – es sind visuelle Erinnerungen. Das Subjekt steht im Fokus, nicht das Objekt. Wer schaut und wie schaut diese Person? Die Doppelbelichtungen sind surreale Kompositionen, die doch real genug wirken. Meine Bilder sprechen von Bewegung und Zeitlosigkeit.

Du bist ein Reisender. Welche Orte besuchst du und mit welchen Gefühlen verlässt du sie?

Ich gehe nur an bestimmte Orte, in die ich investieren möchte. Zum Beispiel Budapest, wo ich immer wieder hinreise und versuche, tiefer einzutauchen. In Mississippi gehe ich seit sechs Jahren in dieselbe Stadt, nach Clarksdale. Normalerweise mache ich das zweimal im Jahr. Auch in die Schweiz werde ich wieder zurückkehren. Und dann San Francisco Bay, Los Angeles und New York. Ich denke, das reicht erst einmal. Das Gute beim Verlassen all dieser Orte ist, dass es für mich immer klar ist, wieder zurückzukommen.

Was ist das Spannende an der Rückkehr?

Mit jedem Mal wachse ich mehr mit dem zusammen, was dort ist. Es gibt so viele Möglichkeiten, neue Arbeiten zu entwickeln. In Mississippi ist nichts wirklich besonders. Trotzdem ist alles dort. Im Gegenteil dazu die Schweiz, dieses Bergidyll. Bei so viel Ästhetik ist es mindestens genauso schwierig, hinter die Oberfläche zu gelangen, wie in Clarksdale. Allen Orten gemein ist meine Faszination für eine Objektivität, die schon tausendmal fotografiert wurde.

Jetzt bist du in San Francisco und deine Kunst ist im Unterengadin.

Das fühlt sich sehr gut an. Auf diese Art bin ich immer noch etwas dort.

Hast du Sehnsucht?

Ja, die habe ich bei allen meinen Orten. Wenn ich zu lange darüber nachdenke, wieviel Freude es mir macht, irgendwo zu sein und dort zu fotografieren, wünsche ich mich auf der Stelle dorthin.

In San Francisco ist das anders. Es ist mein Zuhause, aber ich muss wirklich herausfinden, was ich hier eigentlich machen möchte. Ich muss mich auf eine neue Arbeit konzentrieren. Ich hoffe, dass ich es bald herausfinde.

Womit identifizierst du dich?

Ich habe eine Identität als Freund und Familienmitglied. Eine weitere als Künstler und Fotograf. Ich identifiziere mich als Kalifornier, der eine tiefe Liebe für Mississippi hat. Menschen in Clarksdale verstehen mich. Sie nehmen mich als wäre ich einer von ihnen. Es ist ein verwobener Ort mit einer tragischen Geschichte voller Brutalität. Ich spüre, dass die Leute mit ihrer Vergangenheit und ihrer Kultur kämpfen. Im anliegenden Staat Alabama hatte ich das Gefühl, dass die Menschen eher stolz auf ihre rassistische Geschichte sind und sie sich nicht damit auseinandersetzen wollen. Mit den Menschen und Freunden in Mississippi spreche ich über Rassismus – da ist Raum für Dialoge und Konversationen. In dieser Stadt leben Menschen, die über ihre Vergangenheit Bescheid wissen, deren Eltern und Grosseltern Teil davon waren. Meine Freunde sind weder beschämt noch stolz darauf. Sie sind reflektiert und können den Druck der afroamerikanischen Bevölkerung und das Leck an Opportunität nachvollziehen.

Teilst du deine Identität?

Mit meiner Kunst teile ich ein grosses Stück an Identität. Wir haben auch eine Künstlergruppe hier in San Francisco, die sich unter Fotografen sozial vernetzt.

Du hast gesagt, du wirst wieder in die Schweiz kommen. Auch ins Engadin?

Ja auf jeden Fall. Ich bin sicher in eineinhalb Jahren zurück.

John Chiara ist Fotograf und Künstler. Er studierte am California College of the Arts. Kameragehäuse und Entwicklungsverfahren fertigte er selbst an. Seine Arbeiten wurden unter anderem auch im Museum Bärengasse in Zürich und im Musée des beaux-arts in Le Locle ausgestellt. 2017 ist das Fotobuch «California» erschienen.

Das Interview mit John Chiara hat Hannah Grüninger am Mittwoch, 29. Juli 2020, auf Englisch geführt.