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Michelle Akanji

Critical Whiteness – looking at one’s self through the eyes of others

In der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, aber auch im Theater, ist Weisssein eine Dynamik des privilegierten Schauens auf Andere. Doch auf einer postkolonialen Bühne kann die Unterteilung in Schwarz und Weiss, in Szenerie und Zuschauerraum, nicht aufrechterhalten werden: Alle werden Teil der Szenerie. Alle stehen im Licht. Alle werden Andere.

Was bedeutet es, in einer Gesellschaft weiss zu sein, in der sich die Mehrheit als weiss definiert? Critical Whiteness ist eine Auseinandersetzung mit dem Weisssein als unhinterfragte Norm und den damit verbundenen Privilegien. In den Whiteness Studies geht es in erster Linie darum, die soziale Konstruktion des Weissseins als race – als fiktionale «Rasse», nicht als biologische – zu untersuchen. Während es etwa für Homosexuelle, Frauen oder Schwarze zahlreiche Forschungsansätze zu deren Verhältnis zur Gesellschaft gibt, wurde das Weisssein in der Wissenschaft weitestgehend als «natürlich gegeben» ignoriert. Diese nicht-problematisierte Normalität des Weisseins soll durch Critical Whiteness offengelegt werden.

Die Debatte um Whiteness entstand im Kontext der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Über viele Generationen haben Afro-Amerikaner die weisse Bevölkerung beobachtet und dies schriftlich und mündlich festgehalten. Zu ihnen zählen beispielsweise der Philosoph W.E.B. Du Bois mit dem Standardwerk The Souls of Black Folk in 1903. «Everything considered, the title to the universe claimed by White Folk is faulty», schrieb Du Bois, und kritisierte damit nicht nur das Konzept der weissen «Norm» und «Rassenlosigkeit», sondern vor allem den Glauben an die weisse Überlegenheit, der damit einher ging.

Das Buch hat Bürgerrechtler wie Martin Luther King massgeblich beeinflusst. Doch Teil des weissen, als «allgemeingültig» angesehenen Wissens waren Studien wie diese damals nicht. Erst die afro-amerikanische Autorin Toni Morrison machte es mit ihren Essays in Playing in the Dark (1992) möglich, in den USA ehrlich über das Weisssein zu sprechen. Sie analysierte, wie Repräsentationen von schwarzen Personen in der Literatur eingesetzt werden, um eine Konstruktion des weissen US-amerikanischen Ichs zu ermöglichen. Morrison fand durch die literarische Imagination von Personen, Gefühlen und Atmosphären eine Sprache, die eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Privilegien der weissen Bevölkerung initiierte.

Aus diesen kritischen Ansätzen der Bürgerrechtsbewegung entwickelten sich die Critical Whiteness Studies als produktiver Teil des antirassistischen und postkolonialen Wissens. Sie reflektieren Erfahrungen, die in einem postkolonialen Zusammenhang auftreten, und wurden damit im Feld der Postkolonialen Studien als kritische Praxis und Analysekategorie rezipiert.

Das kritische Potenzial von Critical Whiteness realisiert sich in der Bereitstellung einer Folie. Eine Folie, durch die eine Gesellschaft betrachtet werden kann. Blickt man durch sie hindurch, kann geprüft werden, ob durch Sprache, Diskurse und damit verknüpfte Handlungen eine weisse Macht hergestellt und erhalten wird. Die Folie soll dabei keineswegs nur eine akademische Analysekategorie sein, sondern auch ein zu einem alltäglichen Überdenken des nicht-weissen Lebens in einer dominanten weissen Umgebung führen. Critical Whiteness wurde weit über die US-amerikanischen Landesgrenzen rezipiert und wird gerade im deutschen Sprachraum häufig im Zusammenhang mit antirassistischer Forschung verwendet.

Im Dunkeln tappen

Das Problem mit der Folie: Das Weisssein avanciert zur neuen Negativfolie. Die Welt wird um 180 Grad gedreht, Weiss und Schwarz (bzw. nicht-weiss) tauschen die Plätze. Aus schwarz-weiss wird weiss-schwarz. So wird das binäre Denken in zwei abgeschlossenen Gruppen, das von Kritikern als «postmoderner Rassismus» bezeichnet wird, aufrechterhalten. Wir bleiben der Gegenüberstellung von zwei homogenisierten, nicht zu vereinbarenden Teilen der Gesellschaft verhaftet.

Das zweite Problem – und das betrifft unter anderem auch die Rezeption von Critical Whiteness in der Schweiz: Die Folie deckt gewisse Dinge ab. Denn sie soll ja nicht transparent sein, sondern unseren Blick auf bestimmte Begebenheiten lenken. Ausser Acht bleibt dabei etwa der historische Kontext: Critical Whiteness steht in einem direkten Zusammenhang mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, mit W.E.B. Du Bois, Toni Morrisson und vielen anderen, und lässt sich damit nicht einfach so von der US-amerikanischen auf eine andere Gesellschaft übertragen. Damit verbunden ist auch die Frage, ob und wie in einer Gesellschaft über Rassismus gesprochen kann. «Race is fiction, racism is real», so ein unter Aktivistinnen und Aktivisten viel zitierter Satz. Im Unterschied zu den USA gibt es in der Schweiz allerdings keinen Diskurs über Rassismus auf politischer, sozialer und ökonomischer Ebene, also über institutionalisierten Rassismus. Solange in der Schweiz nicht über postkoloniale Realitäten, geschweige denn offen über Rassismus gesprochen wird, kann Critical Whiteness nicht einfach übernommen werden. Diese Folie würde uns blind machen für die eigene postkoloniale Realität.

Wie könnten die von Critical Whiteness angeregten Diskurse, trotz aller Kritik, fruchtbar sein für ein Land wie die Schweiz? Auch hierzulande ist Weisssein überall, und doch unsichtbar. Um dies sichtbar zu machen, bedarf es einer ehrlichen Auseinandersetzung mit den Privilegien der Mehrheitsgesellschaft. Es beginnt bei den Blickrégimes: Die Mehrheitsgesellschaft schaut auf die „Anderen“; definiert sie anhand ihrer Abweichung von den als «normal» empfundenen eigenen Mitgliedern. Doch die Anderen, die Marginalisierten, blicken in zwei Richtungen. Sie beobachten die Mehrheitsgesellschaft, zu der sie sich verhalten müssen. Und sie sehen sich selbst durch den Blick der Mehrheitsgesellschaft. W.E.B. Du Bois nannte dies bereits 1903 «Double-consciousness» – ein doppeltes Bewusstsein, «a sense of always looking at one’s self through the eyes of others»[1]. Nicht-Weisse in einem hegemonial weissen Setting setzen sich ständig mit ihrem Nicht-Weisssein auseinander. Der Blick der Mehrzahl ist wie ein Spiegel auf Verhalten, Aussehen, möglicherweise Identifikation und prägt damit das Selbstbild der Nicht-Weissen (mit).

Es ist ein Privileg, sich nicht selbst durch den Blick eines Anderen zu sehen.

Wie die Zuschauer im Theater glauben die Privilegierten von ihrer Komfortzone eines Sitzplatzes aus das Spiel zu beobachten. Doch das ist ein Irrtum. Denn im Theater postkolonialer Zeiten gibt es längst keine privilegierten Zuschauer mehr. Die von den Critical Whiteness Studies geforderte Auseinandersetzung verlangt von den Mitgliedern der weissen Mehrheitsgesellschaft die Offenheit, sich selbst in einer Szenerie zu verorten. Anzuerkennen, dass auch sie längst Teil einer gemeinsam hervorgebrachten Wirklichkeit geworden sind. Deshalb wird es Zeit, das Licht einzuschalten. Zu zeigen, dass die Komfortsessel leer sind, und das privilegierte Publikum längst mit auf der Bühne steht.

 

[1]«(Der) Neger (ist) geboren mit einem Schleier und einer besonderen Gabe – dem zweiten Gesicht – in diese amerikanische Welt, eine Welt, die ihm kein wahres Selbstbewusstsein zugesteht und in der er sich selbst nur durch die Offenbarung der anderen Welt erkennen kann. Es ist sonderbar, dieses doppelte Bewusstsein, dieses Gefühl, sich selbst immer nur durch die Augen anderer wahrzunehmen, der eigenen Seele den Massstab einer Welt anzulegen, die nur Spott und Mitleid für einen übrig hat. Stets fühlt man seine Zweiheit, als Amerikaner, als Neger. Zwei Seelen, zwei Gedanken, zwei unversöhnte Streben, zwei sich bekämpfende Vorstellungen in einem dunklen Körper, den Ausdauer und Stärke allein vor dem Zerreissen bewahren.» – so der viel zitierte Abschnitt in der deutschen Übersetzung aus The Souls of the Black Folk, die Max Weber bereits 1905 veranlassen wollte und erst 2003 – 100 Jahre nach der Veröffentlichung Originalfassung – ins Deutsche übertragen wurde. Du Bois, W. E. B.: Die Seelen der Schwarzen. The Souls of Black Folk. Freiburg, 2003.

 

Bildnachweis: «Interior view of Dr. McDougald’s Drug Store.» 1899 or 1900. W.E.B. Du Bois Albums of Photographs of African Americans in Georgia Exhibited at the Paris Exposition Universelle in 1900, Prints and Photographs Division, Library of Congress