Compassion Fatigue. Anästhesie durch Bilder
Seit es Massenmedien gibt, verbreiten diese täglich Bilder aus den Krisengebieten der Welt. Das technische, über weite Distanzen vermittelbare Bild hat die Frequenz, mit der diese Bilder beim Publikum eintreffen, drastisch erhöht. Dabei funktioniert der Merkname des jeweiligen Gebiets (Erdbebens, Konflikts, Kriegs) für die Medien wie ein Brand-Name: Äthiopien, Somalia, Bosnien, Ruanda, Japan, Nepal – und die Aufnahmen von Hunger, Krankheit, Tod und Katastrophe ähneln sich. Sie apellieren an unser Mitgefühl und machen uns gleichzeitig deutlich, wie gross die Distanz zwischen dem zuschauenden „Wir“ und dem leidenden „Sie“ ist. Sie bringen uns in einen Konflikt. Sie suggerieren die Einzigartigkeit einer Not und tun das täglich, jahraus, jahrein. Sie apellieren im Geist der Aufklärung an unsere Solidarität und steigern gleichzeitig das Gefühl der Hilflosigkeit.
Die dadurch entstehenden emotionalen Ermüdungserscheinungen bezeichnet die amerikanische Medienwissenschaftlerin Susan D. Moeller in einem 1998 erschienenen Buch als „Compassion Fatigue“[1]. Dieser Begriff wurde im Zusammenhang mit Pflegenden insbesondere von Traumapatienten geprägt[2] und beschreibt einen Schwund der Empathiefähigkeit, eine Art emotionalen Burn-Out. Moeller diagnostizierte eine solche Erschöpfung und damit eine abnehmende Handlungsbereitschaft in der amerikanischen Öffentlichkeit. Die Ursachen dafür sah sie auch in der stereotypen Berichterstattung, die den immer gleichen Erzählmustern folgt.
Bereits 1975 schrieb die amerikanische Essayistin Susan Sontag in einem berühmt gewordenen Text[3] über die Ambivalenz der fotografischen Bilder, die einerseits durch ihre Foto-Realität aufrütteln, andererseits durch ihren inflationären Gebrauch abstumpfen. 2003 revidierte sie ihre Meinung in dem Band „Das Leiden anderer betrachten“[4] teilweise, indem sie eine Notwendigkeit von Bildern aufgrund ihres aufklärerischen Potenzials anerkannte. „Kriege, von denen es keine Fotos gibt, werden vergessen“, schrieb sie.
Dennoch: die Beschleunigung der News-Berichterstattung, die Krise der Medien, der immer härtere Kampf um Aufmerksamkeit verschärft das Problem der Anästhesie durch die Bilder: In den News geht eine Krise nahtlos in die nächste über, die Redaktionen sind immer auf der Suche nach dem einen, dem „richtigen“, weil überdurchschnittlich wirkungsvollen Bild, das es für kurze Zeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Publikums, allenfalls sogar ins kollektive Gedächtnis schafft. Die innere Anteilnahme des Betrachters nimmt dabei in dem Masse ab, als ihm die Möglichkeit fehlt, die Bilder mittels differenzierter Informationen zu kontextualisieren und zu reflektieren: Wer hat auf wen geschossen? Wer ist Opfer? Wer Täter? Wer sendet ein Bild mit welchen Absichten? Und welche Bilder sehen wir nicht und weshalb?
„Jedes Foto wartet auf eine Bildlegende, die es erklärt – oder fälscht. Während der Kämpfe zwischen Serben und Kroaten zu Beginn der jüngsten Balkankriege wurden von der serbischen und der kroatischen Propaganda die gleichen Fotos von Kindern verteilt, die bei der Beschießung eines Dorfes getötet worden waren. Man brauchte nur die Bildlegende zu verändern, und schon ließ sich der Tod dieser Kinder so und anders nutzen.“[5]
Fotojournalisten sehen ihre Pflicht in der Berichterstattung. Der Medienkonsument befindet sich in einer Bewegung zunehmenden Misstrauens: Kann er den Bildern trauen oder wird er manipuliert? Wer sich manipuliert sieht, wird sich abwenden, nicht nur vom Leiden anderer, sondern vom Geschehen in der Welt, sogar vor seiner Haustür. Darin liegt nach Moeller die Gefahr, die vom Phänomen „Compassion Fatigue“ ausgeht. Eine Gesellschaft, die im Leiden der „Anderen“ keine Bedrohung für ihre eigenen Werte sieht, wird unfähig, solidarisch zu handeln.
[1] Compassion fatigue : how the media sell disease, famine, war and death / Susan D. Moeller. – New York [etc.] : Routledge, 1998.
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Compassion_fatigue
[3] Über Fotografie / Susan Sontag ; aus dem Amerikanischen von Mark W. Rien und Gertrud Baruch. – [2. Aufl.] – München : Hanser, 1978.
[4] Das Leiden anderer betrachten / Susan Sontag. – München : Hanser, 2003.
[5] Das Leiden anderer betrachten / Susan Sontag. – München : Hanser, 2003.