Can the privileged listen?
Aus postkolonialer Perspektive kann die Aufführung als hierarchischer und konflikthafter Raum verstanden werden, der von der europäischen Idee des «Eigenen» und des «Fremden» geprägt ist. Eine De-Kolonisierung der Aufführungssituation bedeutet, dass dieses hegemoniale Verhältnis unterbrochen wird. Das Zuhören wird in diesem Kontext zum widerständigen Akt, der eine Begegnung mit dem Gegenüber möglich macht.
- «Ursprung»[1]
Wie können wir[2] über globale Verstrickungen und Geschichte kultureller Autorität und Repräsentation sprechen, ohne sie gleichermassen zu wiederholen? Wie können wir kultureller Differenz begegnen, ohne vermeintliche Dualismen zu manifestieren? Wie könnte die Vergangenheit im Moment kultureller Begegnung präsent sein, ohne eine Wiederholung des immer Gleichen darzustellen?
Diesen Fragen werde ich im Folgenden mit Bezugnahme auf postkoloniale Theorien und mit Blick auf die europäische Idee des «Eigenen» und «Fremden» nachgehen. Diese Erzählung beginnt mit der – durch die Geschichte bedingten – europäischen Vormachtstellung und hat demnach ihren Ursprung in der «Entdeckung neuer Welten» und damit des «Anderen». Sie führt zurück zur Zeit des Kolonialismus im 15. Jahrhundert, zieht sich über den europäischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts und weiter zur europäischen Moderne des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.
Vier Jahrhunderte Kolonialgeschichte und Sklav/innenhandel berichten von wirtschaftlichem und nationalem Streben, von Privilegien und dem Leiden, das daraus entsteht, von dem Hype des Eroberns, ungehörten Widerständen sowie von menschlicher Habgier und Ausbeutung. Aus postkolonialer Perspektive bilden die damaligen Ereignisse die Grundlage heutiger hegemonialer, hierarchischer und rassistischer Verhältnisse, die sich in der Dualität des «Eigenen und Fremden» widerspiegeln. Sie markieren den Beginn europäisch-(nord)amerikanischer Ausbeutung der restlichen Welt und das Aufkommen des darin zugrundeliegenden westlichen Selbstverständnisses, für sich die rationale Allgemeingültigkeit zu beanspruchen. Aus dem Glauben der Überlegenheit speiste sich die Überzeugung eines Rechtes, das mit dem Anspruch an all das einhergeht, was ausserhalb des «Eigenen» liegt. Diejenigen, welche von sich als die «Zivilisiertesten» sprachen, waren im Grunde genommen die grössten und hungrigsten Tiere der Geschichte. Gleichzeitig verdeutlicht der afrikanische Historiker Jospeh Ki-Zerbo in seinem Buch Die Geschichte Schwarz-Afrikas (1981), dass die Ausbeutung der kolonisierten Länder wie Amerika, Asien und Afrika nicht aufgrund der scheinbaren und schlichten Überlegenheit der Europäer/innen zu erklären ist, sondern weil gleichgesinnte habgierige Verbrecher/innen mit den Europäer/innen Geschäfte machten.[3] Und so häufte Europa auf Kosten der kolonisierten Länder, welche Rohstoffe, Arbeitskräfte und Kapital lieferten, enormen Reichtum an. Die Zeit des Imperialismus offenbarte und beförderte – trotz des unorganisierten und von Streitereien durchzogenen Vorgehens – den technischen Vorsprung der Europäer/innen.[4]
«Man nahm, weil man glaubte, dass es notwendig wäre, um frühere Eroberungen zu schützen; später nahm man, weil alles zum Greifen nah lag; noch später nahm man, um den Nachbarn zuvorzukommen; zum Schluss nahm man, um zu nehmen.»[5] (Joseph Ki-Zerbo)
Anhand der 10. Weltausstellung die 1889 in Paris stattfand, lässt sich zeigen, wie die koloniale Strategie der Repräsentation des «Fremden» den Blick auf das «Andere» sowie das dualistische Verhältnis eines «Europas» im Gegensatz zum «Rest der Welt» manifestiert hat. Die Weltausstellung steht beispielhaft für die Feier des Fortschritts in Europa, das damals als Zentrum der Welt und als Welt der Technik galt. Präsentiert wurden zweierlei Welten; einerseits die Welt «der herrschenden Nationen» und andererseits die Welt der kolonialen Eroberungen Frankreichs bis 1889, welche die Gebiete des heutigen Tunesien, Sudan, Tonkin, Madagaskar und Kongo umfassen.[6]Obwohl die sogenannten «Völkerschauen»[7] Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur populär waren, sondern auch (damals bereits) kritisch hinterfragt wurden, übernahm nun der Staat die Ausrichtung dieses Spektakels für das Entertainment des Publikums. Man wollte den Besucher/innen einen «Einblick in exotische Kulturen» vermitteln und hatte darüber hinaus auch erzieherische Massnahmen im Sinn: Einerseits wollte man die Bürger/innen und politischen Amtsträger/innen über die verschiedenen Kulturen unterrichten, andererseits jene wenigen Wanderarbeiter/innen der Kolonien mit dem Stand der Zivilisation in der Hauptstadt vertraut machen, sodass diese nach der Rückkehr in ihre Heimatländer als Zeug/innen der «modernen Lebensart» eingesetzt werden könnten. Anstatt eine kulturelle Begegnung oder gegenseitiges Verständnis zu initiieren, sollten die ethnografischen Dörfer der Manifestierung europäisch-weisser Überlegenheit dienen.[8]
Ausgehend von Beschreibungen ägyptischer Besucher/innen der Pariser Weltausstellung und anderer arabischer Autor/innen erörtert der Theoretiker Timothy Mitchell in seinem 1989 verfassten Aufsatz Die Welt als Ausstellung die Frage, was der Prozess des Ausstellens über den modernen Westen aussagt. In den Darstellungen arabischer Autor/innen war Europa ein «Ort des Spektakels und des visuellen Arrangements, des Organisierens aller Dinge»[9]. Nur indem die Europäer/innen zwischen sich und der Welt eine Distanz schufen, konnten sie sich ein Bild von der Welt verschaffen und sie als (ausgestelltes) Objekt konstruieren.[10]Gleichermassen konnten sie auch nur dem «Orient»[11] etwas abgewinnen, wenn sie einen Schritt zurück machten und beispielsweise eine Fotografie oder Zeichnung anfertigten. Hierbei wollten sie nicht nur ein zutreffendes Bild des «Ostens» erstellen, sondern «den Osten als Bild in Szene setzen»[12], so wie sie auch in der Pariser Ausstellung die Welt in Szene setzten. Die Fähigkeit, sich ein «Bild machen zu können»[13], verlangte nach einer abgehobenen und aussenstehenden Position, in der man selbst nicht gesehen werden konnte. Nur so konnte eine distanzierte und objektive Darstellung inszeniert beziehungsweise «etwas als orientalisch»[14] repräsentiert werden. Die Gegenwart der europäischen Beobachter/innen, also die europäische Präsenz, musste komplett aus dem Bild eliminiert werden. Dies bestärkte nicht nur die Trennung von der Welt, sondern stellte gleichzeitig auch eine Position der Macht her.[15] Eine «objektive» Wiedergabe der Geschichte sollte die imperiale Wahrheit der kulturellen Differenz vermitteln.
Durch die realistische Gestaltung waren die europäischen Besucher/innen der Weltausstellung dem Objekt im wortwörtlichen Sinn zum Greifen nahe, doch gleichzeitig waren sie durch den Besucher/innen-Status von dieser Welt immer ausgeschlossen. Sie waren zugleich Beteiligte und Beobachter/innen. In der gleichen Ambivalenz überzeugte die Ausstellung die Menschen, «dass die Welt in zwei grundlegende Bereiche geteilt ist […]die Ausstellung und die äussere Realität»[16]. Die Besucher/innen der Ausstellung entwickelten den Glauben, dass das, was repräsentiert wurde, kein realer Ort war, sondern lediglich eine Anhäufung von Charakteristika und Referenzen. Jede Re-Präsentation kündigte jeweils erneut die Realität des Orients an und zementierte den Glauben an diese Realität. Der Orient konnte nur als Repräsentation verstanden werden – als Bild von etwas – dessen Original dahinter lag. Mitchell betrachtet den «Effekt einer äusseren Realität» als wesentlich für die «westliche Erfahrung von Ordnung und Wahrheit»[17]. Der «Orient» als «die ‹grosse äussere Realität› des modernen Europa»: Das war es, was die Ausstellung verkörperte, und worin der koloniale Charakter jener Verfahrensweise liegt.[18] Dieser Mechanismus ist Teil des sogenannten Orientalismus, der nicht nur den eurozentristischen und westlichen Blick auf Gesellschaften des Nahen Ostens prägte, sondern auch das hegemoniale Verhältnis, welches sich daraus ergibt.
«Der von mir langersehnte Regenwald. Ich bin verliebt in den Anblick der Bäume. Aber die Strasse ist zu glatt. Die seit ihrer Fertigstellung dort angesiedelten Dörfer sind zu zivilisiert. Nichts ist wild und zerzaust, ausser vielleicht ein paar entfernt torkelnden grünen Baumkronen auf den Bergkämmen.»[19] (Michel Leiris, Unterwegs nach Gabun, 21. Februar 1931)
Die seit 1880 nach Europa verschifften ausser-europäischen Artefakte kamen nicht nur in die Hände europäischer Kunsthändler- und sammler/innen, sondern auch die Ethnologie und Kunstwissenschaft schenkte ausser-europäischen Kulturen vermehrt Aufmerksamkeit. Insbesondere durch Forschungsreisen sowie koloniale und missionarische Beziehungen gelangten die Artefakte dann auch in neugegründete Völkerkundemuseen, wodurch sie der Öffentlichkeit «zugänglich» wurden. Die Faszination für das «Fremde» und «Exotische» war damals auf seinem Höhepunkt angelangt, weshalb auch kommerzielle Zeitschriften, Magazine sowie Illustrierte entsprechende Motive nutzen. Der Kunsthistoriker Carl Einstein deklarierte in seinem Buch Negerplastik (1915) Artefakte aus Afrika und Ozeanien erstmals als Kunst und änderte somit ihre bisherige Rezeption nachhaltig. Beeinflusst durch populäre Medien sowie Kunsthändler- und sammler/innen setzten sich nicht zuletzt auch viele künstlerische Avantgardebewegungen der europäischen Moderne mit ausser-europäischen Kulturen auseinander und prägten das Bild des «Fremden» bis heute. Sie richteten sich gegen das damalig herrschende System und verfolgten das Ziel, der Bürgerlichkeit, Oberflächlichkeit und Dekadenz gefährdeten europäischen Kultur etwas entgegensetzen. Auf der Suche nach Einfachheit, Unmittelbarkeit und Echtheit fanden sie im «Fremden» ein Gegenmittel für das erkrankte Europa und deklarierten es zur Antithese: Es galt als «nicht-weiss» oder «nicht-europäisch», und stand somit für all das, was vermeintlich nicht durch die «Zivilisation» verdorben worden war. Diese affirmative Bezugnahme auf das «Fremde» sowie die überhöhte Stereotypisierung des «Primitiven»stigmatisierte das «Andere» als willkommene exotische Alternative und verstärkte letztlich den Gegensatz zwischen dem vermeintlich «Eigenen» und «Fremden». Zuerst wurde das «Andere» entdeckt und erobert. Später wurde es geordnet, um es als das «Fremde», als «grosse äussere Realität» Europas greif und erlebbar zu machen. Anschliessend wurde es als Alternative gefeiert.
- «Störungen»
«Wer spricht? Wer schreibt? Wann und wo? Mit wem oder an wen? Unter welchen institutionellen und historischen Zwängen?»[20]
Anhand der historischen Darstellung der Repräsentation und Rezeption ausser-europäischer Kulturen in Europa lässt sich das strukturelle Verhältnis des «Eigenen und des Fremden» sowie der europäische Blick auf das «Andere» ablesen. Gleichzeitig lässt sich nachvollziehen, welche Rolle die Europäer/innen in der Konstruktion des «Fremden» einnehmen. Dabei rückt die Frage «Wer spricht? Wer schreibt?» in den Mittelpunkt und es wird deutlich, dass eine einseitige und eurozentristische Geschichtsschreibung wirksam ist. Sie lässt nicht nur die «weisse» Sprecher/innenposition im Kontext der «Aufführung» verschwinden, sondern verhindert – so wie Gayatri Spivak dies in ihrem Text Can the subaltern speak (1988) darstellt – den Sprechakt der Marginalisierten und davon abgeleitet: Die autonome Repräsentation des «Anderen».
Unter «Aufführung» wird hier jede kulturelle Praxis verstanden, die auf der Geste des Zeigens beruht. Damit können unter den Begriff der «Aufführung» diverse Formen der Darstellung, Repräsentation, Inszenierung und des Abbildens subsummiert werden. Ebenso kann die «Aufführung» in unterschiedlichen Formaten (wie etwa Ausstellungen, Theaterstücke, Performances, Filme, Malereien) stattfinden. Die Aufführung ist – als Sprechakt – eine sprachliche Äusserung (im weitesten Sinne) und durch den situativen Kontext determiniert. Sie ist ein Handlungsraum und produziert durch den Charakter des Zu-Sehen-Gebens Bedeutung.
«Die Geschichte ist eine Prophetin mit rückwärts gewandtem Blick; aus dem, was war, und gegen das, was war, kündet sie das Kommende.»[21] (Eduardo Galeano)
Der Akt der Aufführung ist folglich kein neutraler oder unabhängiger, sondern konstituiert sich aus bestehenden Machtverhältnissen und ist stets von seinen Akteur/innen, Adressat/innen, dem Ort und der Zeit der Aufführung sowie von den «institutionellen und historischen Zwängen» geprägt. Da die Aufführung durch die Geste des Zeigens bestimmt ist, konstituiert sie sich gleichzeitig auch durch das, was nicht gezeigt wird. Jener unsichtbare Teil, der die Aufführung implizit bestimmt, verweist in quasi-kolonialen Zusammenhängen auf die Geschichtsschreibung der Sieger/innen und somit auf die unsichtbare Position und unhinterfragte Norm des weissen Subjekts. Sofern die Vergangenheit in der Gegenwart (der Aufführung) stets präsent ist, bedeutet der Rückgriff auf den (historischen) Kontext und die Bedingungen jeder Aufführung gleichermassen die Dekonstruktion struktureller Machtgefüge und hegemonialer Geschichtsdarstellung. Gleichzeitig können tradierte Formen der Repräsentation befragt werden. Somit verweist der Kontext jeder Aufführung auf die Frage der «Re-Präsentation», die durch die Geschichte bedingte «Präsentation» ist.
Nicht zuletzt geht es im Rahmen einer Aufführung um die Frage «Mit wem oder an wen?» und somit um die Adressat/innen. Im Kontext der De-Kolonisierung der Aufführungssituation handelt es sich konkret um das weisse betrachtende Subjekt. Dieses gilt es im Kontext der Aufführung «sichtbar» zu machen und ihm die unabhängige und distanzierte Position der Beobachter/in zu verweigern. Den weissen Blick auf das vermeintlich «Fremde» zu verschieben, ihn nicht in seinen Seh- und Denkgewohnheiten zu befriedigen und somit nicht fortwährend in seiner (scheinbar) überlegenen Position zu bestätigen, ist das erklärte Ziel. Aus der selbstreflexiven Betrachtung können Konsequenzen für das eigene Rezeptionsverhalten und Handeln gezogen werden. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir (an)erkennen, dass es ausserhalb des westlichen Wissens noch ein anderes Wissen gibt.
- «Heilung»
Im Kontext kultureller Begegnung scheinen das «Eigene» und das «Fremde» in einem dualistischen und abgeschlossenen Verhältnis zueinander zu stehen. Jene «Differenz zum Anderen» wird nach Homi K. Bhabha jedoch nicht als ein stabilisierender und abgrenzender Identifikationsprozess verstanden. Bilder des «Eigenen» und des «Fremden» stehen vielmehr in einer prozessualen Bewegung zueinander. Dieses Verständnis beruht auf Bhabhas Annahme, dass Kulturen und ihre Subjekte nicht homogene und in sich geschlossene Totalitäten darstellen und demnach nicht als unbewegliche oder gar naturgegebene Konstrukte verstanden werden können.[22] Der Andere wird hier nicht als Abgrenzung zum Eigenen oder als Vergewisserung dessen verstanden, sondern ist «zugleich als begehrbar und abstoßend markiert».[23] Folglich ist der Differenz zum Anderen eine Ambivalenz immanent. Sie zeichnet sich durch die Verbindung in der Abgrenzung aus und produziert ein «Dazwischen», in dem Identitäten sich immer wieder neu konzipieren.[24] Bhabha nennt jenes «Dazwischen» den «Dritten Raum», in dem «weder das eine noch das andere»[25] ist, indem die Abgrenzbarkeit quasi-natürlicher Kulturen und Subjekte aufgehoben wird, eindeutige Symbole hybrid gemacht werden und das Du und Ich in eine Bewegung versetzt werden.[26] Das Konzept des Dritten Raumes beschreibt somit einen liminalen Raum – einen Schwellenraum – der zwischen zwei dualen Identitätskonstruktionen liegt. Der prozessuale Moment des Dazwischen-Seins kann laut Bhabha als Hybridisierung bezeichnet werden. Das Widerständige am Prozess der Hybridisierung sind die Momente der Verunsicherung, da sich in ihnen ein Ort der Verhandlung markiert.[27] Subjekte und ihre Kulturen erfahren Verwandlungsprozesse, aus denen heraus eine Intervention in kulturelle Machtgefüge möglich ist.[28]
Insofern Bhabha den Dritten Raum als «Äusserungraum» versteht, möchte ich im Folgenden die «Aufführung» als «Dritten Raum» denken. Als «Äusserungraum» ist die Aufführung gleichermassen «Bereich und das Ergebnis» des Kulturkontaktes.[29] Sie stellt aufgrund ihres institutionellen und historischen Kontextes sowie der Geste des Zeigens einen hierarchischen und konflikthaften Raum dar. Der Aufführungsraum ist daher kein Ort der harmonischen Begegnung mit sich und anderen. Im Aufführungsraum – als Äusserungraum – konstituiert sich, im Sinne von Bhabha, im Prozess der Differenzmarkierung selbst die Problematik und Ambivalenz kultureller Autorität, womit er «den Versuch der Herrschaftsausübung im Namen einer kulturellen Überlegenheit» anspricht.[30] Da Bhabha kulturelle Entwicklung und Begegnung jedoch gerade innerhalb hegemonialer Systeme positioniert, erkennt er im Moment der Äusserung kultureller Differenz ein subversives Potential.[31]
Der Akt des Zuhörens soll hier im Kontext der Aufführung eine wesentliche Rolle spielen. Wer spricht, kann nicht zuhören. Das Zuhören verspricht daher eine Unterbrechung des hegemonialen Verhältnisses, in dem das weisse Subjekt die dominante Sprecher/innenposition einnimmt. Man kann seinem Gegenüber nicht aus einer machtvollen Position zuhören. Um zuzuhören, muss man leer sein, damit man sich mit dem füllen kann, was der Andere einem zu erzählen hat. Es wird jedoch nicht behauptet, dass sich das Individuum tatsächlich aus seiner Bedingtheit lösen und kulturelle Verstrickungen ganz einfach abschütteln sowie seine machtvolle Position verleugnen kann oder soll. Ebenso wenig geht es um ein affirmatives Sich-Hingeben-und-Verlieren. Das Zuhören beschreibt vielmehr ein Zurücktreten, und dadurch eine Begegnung mit dem Gegenüber. In der Begegnung können Gemeinsamkeiten und Differenzen wirksam werden und miteinander agieren. Verbindung schafft der geteilte Moment der Aufführung, der den Ursprung der Begegnung beinhaltet. Das «Andere» spielt plötzlich eine Rolle in der «eigenen» Sichtweise. Folglich bedarf das Zuhören einer Offenheit für unbekannte Stimmen und erzeugt eine (innere) Beteiligung. Das sprechende und das zuhörende Subjekt gehen eine Symbiose ein. Im Kontext der Aufführung wird daher einerseits eine klare Trennung deutlich, andererseits die Rolle der Zuschauer/in und Darsteller/in aufgehoben. Das-sich-Einlassen verhindert eine distanzierte und objektive Betrachtung des Geschehens. Im Zuhören kann das Subjekt unmöglich in seiner eigenen sozialen und kulturellen Konstitution bestätigt werden. Die Konfrontation mit der eigenen Identität ermöglicht es, sich seiner Selbst bewusst zu werden und die Prägung der eigenen Sichtweisen nachzuvollziehen. Das Zuhören im Akt der Aufführung ermöglicht, jene binäre Aufteilung der Zuschauer/in und Darsteller/in «auf der Ebene der kulturellen Repräsentation» zu problematisieren und im Hin und Her hybrid zu machen. Vermeintlich eindeutige und festgesetzte kulturelle Aussagen und Zeichen können «neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden.»[32] Das Zuhören steht hier der Lust am Schauen und dem Spektakel gegenüber und wird als subversives Mittel verstanden. «Can the privileged listen?» zielt auf die Haltung der Besucher/innen ab und auf die Rolle, die sie im Kontext der Aufführung einnehmen. Der Akt des Zuhörens führt zurück zum Ursprung, wo die Heilung stattfindet.
[1]Die Überschriften «Ursprung», «Störungen», «Heilung», «Allianzen», «Anerkennung» und «Methodik» (spanisch: «Origen»/ «Principio», «Interferencias», «Sanación», «Alianzas», «Aprobación», «Metodologóía») bildeten dieStruktur eines Vortrags von Prof. Dr. Abadio Green Stocelim Völkerkundemuseum der Universität Zürich am 20. April 2016und wurden zur Inspirationund Grundlage eines Modells, das ich im Rahmen der Masterarbeit «Wi(e)der-Aufführung als kuratorische Praxis» (2017) entwickelt habe. Das Modell verfolgt ein nicht-westlich bzw. nicht-lineares Verständnis von Zeit, bei dem die Bewegung nicht lediglich vor und zurück geht, sondern zirkulär bzw. spiralförmig aufgebaut ist.
[2]Ich spreche aus der Position einer «weissen» privilegierten Person. (Der Begriff «weiss» ist eine gesellschaftspolitische Bezeichnung und grenzt sich von einem biologischen Begriff oder dem Zusammentreffen mit bestimmten Merkmalen einer Kultur ab. Weisssein geht automatisch mit einer bestimmten und privilegierten Stellung in der Gesellschaft einher.)
[3]Ki-Zerbo, Joseph: Die Geschichte Schwarz-Afrikas. Wuppertal,1981, S. 220f.
[4]Vgl. Ki-Zerbo 1981, S. 232.
[5]Ki-Zerbo 1981, S. 444.
[6]Vgl. Wyss, Beat: Primitive und Orientalen: Afrika und der Islam. In: Bilder von der Globalisierung. Die Weltausstellung von Paris 1889. Berlin,2010, S. 74.
[7]Laut Rea Brändle hatten «Völkerschauen»in Europa in diversen Kontexten (wie auf Volksfesten, in Varietés, im Zirkus oder Zoo sowie auf Kolonialausstellungen) zwischen 1870 und 1930 ihre Blütezeit. In ihrem Buch Wildfremd, hautnah. Zürcher Völkerschauen und ihre Schauplätze1835—1964(2013) berichtet sie unter anderem davon, dass der Schweizer Nationalzirkus Knie noch im Jahre 1964 auf dem Sechseläutenplatz neben Tieren auch Menschen vorführte.
[8]Vgl. Wyss 2010, S. 75.
[9]Mitchell, Timothy: Die Welt als Ausstellung. In: Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini; Römhild, Regina: Jenseits des Eurozentrismus, Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2., erweiterte Auflage. Frankfurt am Main,2013, S. 443.
[10]Ebd.
[11]Der Begriff Orient (lat. Oriens, dt. Osten) ist von diversen Bedeutungen und Diskursen geprägt. Zur Zeit des 19. Jahrhunderts zählte man in Europa nicht nur die arabischen sowie asiatischen Länder zum Orient, sondern auch einige Länder Südosteuropas, sowie den ganzen afrikanischen Kontinent.
[12]Mitchell2013, S. 453ff.
[13]Ebd.
[14]Ebd.
[15]Vgl. Ebd.
[16]Mitchell 2013, S. 457ff.
[17]Vgl. Mitchell 2013, S. 446.
[18]Mitchell 2013, S. 451.
[19]Heinrichs, Hans-Jürgen (Hg.): Michel Leiris: Phantom Afrika. Tagebuch einer Expedition von Dakar nach Djibouti 1931-1933, Band 1. Frankfurt am Main,1980-1984, S. 241.
[20]Clifford James: Halbe Wahrheiten (1968). In: Rippl, Gabriele (Hg.): Unbeschreiblich weiblich. Texte zur feministischen Anthropologie. Frankfurt am Main,1993, S. 118.
[21]Galeano, Eduardo: Die offenen Adern Latein Amerikas. Die Geschichte eines Kontinents. 5. Auflage der Neuausgabe (2009). Wuppertal,2015, S. 21.
[22]Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, S. 54.
[23]Struve, Karen: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden 2013, S. 68.
[24]Vgl. Struve 2013, S. 63ff
[25]Bhabha 2000, S. 38.
[26]Vgl. Bhabha 2000, S. 55.
[27]Vgl. Struve 2013, S.111f.
[28]Vgl. Struve 2013, S. 98f.
[29]Vgl. Ebd.
[30]Bhabha 2000, S. 52ff.
[31]Vgl. Huber 2013, S. 115.
[32]Bhabha 2000, S. 57ff.
Spezialausgabe
Im Welttheater
Laura Sabel (*1990) ist Kunst- und Kulturwissenschaftlerin und arbeitet seit 2015 als Kulturvermittlerin im Cabaret Voltaire. Ihre Interessen liegen im Bereich kultureller Praktiken sowie der postkolonialen Kritik.