Can the Object ____ ?
Was bedeutet Verstehen und Nicht-Verstehen im Kulturkontakt? Wie kann man Sprache im Sinne ihrer Ein- und Ausschlüsse verstehen? Und wie können diese Fragen im Moment der Aufführung gedacht werden?
Jede Sache hat ihr Wort; da ist das Wort selber zur Sache geworden. Warum kann der Baum nicht Pluplusch heissen und Pluplubasch wenn es geregnet hat? Und warum muss er überhaupt etwas heissen? Müssen wir denn überall unseren Mund dran hängen? [1]
Hugo Ball
Es muss einen Weg geben, auf welchem Schweigen und Reden ein und dasselbe werden, das ist dort, wo Verneinung und Bejahung in einer höheren Form von Aussage zusammenfliessen. [2]
Daisetz T. Suzuki
I
Die biblische Erzählung Turmbau zu Babel berichtet von Menschen, die sich zusammenfinden und ausrufen: «Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm. / Sein Haupt: hinaus in den Himmel. / Machen wir uns einen Namen, / auf dass wir nicht verstreut leben auf dem Antlitz der ganzen Erde.»[3] Gott schätzt das Vorhaben der Menschen ihm gleich zu kommen als Selbstüberhöhung ein und verwirrt ihre Sprachen, sodass sie sich untereinander nicht mehr verstehen können, weshalb der Turmbau scheitert und die Menschen sich über die ganze Erde verstreuen.
II
Dada ist näher gerückt. Das bedeutet, dass der «Wahnsinn der Zeit» stärker denn je spürbar ist und sich in gegenwärtigen Prozessen, wie der Ausbeutung und Trennung von Natur und Mensch oder Mann und Frau, nationalistischem Denken, der Regulierung des Menschen und sozialer Strukturen durch Technologie oder der vermeintlichen «Differenz» zwischen «dem Westen» und «dem Rest der Welt», zeigt. Damit zusammenhängende Prinzipien, wie der Glaube an Vernunft und Rationalität, das Streben nach Fortschritt und Wachstum oder die Instrumentalisierung des dualistischen Weltverständnisses, haben ihren Ursprung in der europäischen Moderne und stehen im Kontext der durch sie geprägten hegemonialen Verhältnisse in der globalen Gegenwart. Als Dada 1916 in Zürich während des Ersten Weltkrieges von (hauptsächlich) Migrant*innen im Exil gegründet wurde, richteten sie ihren Widerstand gegen all jene Entwicklungen, mit denen wir als Enkelkinder ihrer Zeit konfrontiert sind, und in denen es im Grunde um die Bedingungen des Denkens geht, wie in der Sprache gegeben bzw. nicht gegeben ist: «Im allgemeinen nehmen wir an, dass der Satz ‹A ist A› absolute Gültigkeit besitzt, und dass die Annahme ‹A ist nicht A› oder ‹A ist B› unvollziehbar sei. Wir waren nie imstande, diese Denkbedingungen des Verstandes zu durchbrechen […]. Wenn die Worte aufhören, mit den Tatsachen übereinzustimmen, ist es Zeit für uns mit den Worten zu brechen und zu den Tatsachen zurückzukommen.»[4]
A ist B – Hans Arp beschreibt jene Zeit wie folgt: «Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte.»[5] Die Dadaist*innen sahen sich in einem dualistischen Wertesystem gefangen, indem «entweder das Eine oder das Andere» zur Auswahl stand, weshalb sie nicht in der Lage waren, die Gesamtheit und Komplexität der Welt zu fassen. Sie erkannten, dass das rationale Denken über die sinnliche Erfahrung gestellt wurde und eine Überhöhung des vernunftgeleiteten Menschen damit einherging. Entsprechend schien die vorherrschende Sprache, mit der sie konfrontiert waren, lediglich das Logische und Erklärbare ausdrücken zu können. Sie stürzten sich und ihre Sprache in unüberwindbare Gleichzeitigkeiten, in denen sich die Gegensätze vereinten und das Paradoxe einen Raum erhielt: «Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; […] Er [der Dadaist] weiss, dass sich im Widerspruche das Leben behauptet […]. Er glaubt nicht mehr an die Erfassung der Dinge aus einem Punkte, und ist doch noch immer von der Verbundenheit aller Wesen, von der Gesamthaftigkeit überzeugt, dass er bis zur Selbstauflösung an den Dissonanzen leidet.»[6] Jene Selbstauflösung hat ihre Konsequenz in der Haltung: «Dada bedeutet nichts»[7].
Verse ohne Worte – Das Wort war zur Ware geworden und hatte seinen tieferen Sinn verloren; die Sprache wurde gewaltsam missbraucht und schien folglich abgenutzt: «Diese vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt wie von Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben. Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt.»[8] Die Aufhebung des bestehenden Wertesystems war für die Dadaist*innen gleichbedeutend mit dem Verlernen der konventionellen Sprache und sie experimentierten mit neuen Ausdrucksweisen, in denen sich die Sprache verselbstständigen durfte. Sie entwickelten beispielsweise das Simultangedicht, das auf die Dekonstruktion von Sprache und Bedeutungsproduktion abzielt. Die Sprachverwirrung tritt hier insofern auf, als die Überlagerung von Sprechakten (unterschiedlicher Sprachen) ein Nebeneinander aus Worten sowie Momente des Verstehens und Nicht-Verstehens produziert, die zwar Teilverständlichkeiten erzeugt, jedoch schlussendlich Unverständnis hinterlässt. Anders gestaltet es sich in den von ihnen entwickelten «Lautgedichten», in denen sie auf die «logische» Sprache verzichteten und «eigene» Wortschöpfungen kreierten. Die aneinandergereihten Buchstaben ergeben Laute, welche keine semantische Funktion tragen und sich jeder Eindeutigkeit sowie rationalen Erklärbarkeit entziehen. Ihr «Sinn» ergibt sich vielmehr aus Erinnerung an Bedeutungen, die sich aufbauen und wieder verlaufen sowie durch die Aufführungssituation.
Sonate in Urlauten – Kurt Schwitters strebte ebenfalls nach einem elementaren Verhältnis zur Wirklichkeit, wobei er diese Echtheit und Unmittelbarkeit nicht wie andere Dadaist*innen in etwas «Magischem» oder «Fremdem» suchte, sondern in etwas Ursprünglichem vermutete, das an eine vorsprachliche Menschheit gebunden ist. Schwitters verfolgt in seiner Sonate in Urlauten die Ursprünge der Sprache sowie der Musik und verwendet hierfür Buchstaben, die er anstatt dem Wort, als ursprüngliches Material der Dichtung betrachtet.[9] Die Buchstaben und ihr Klang sind Ausgangspunkt der phonetisch und typographisch ausgearbeiteten Ursonate [10] in Form einer klassischen Sonate. Neben Wörtern wie «RAKETE» (Rakete), «DE DES NN NN RRR» (Dresden) oder «PRA» (Arp), die Schwitters bis zur Unkenntlichkeit dekonstruiert, besteht die Ursonate aus undeutbaren Buchstabenketten und lebt von ihrem Klang sowie Rhythmus, ihrer Stringenz, der Ernsthaftigkeit ihrer Rezitation sowie der Erfahrbarkeit des Übergangs von willkürlichem Geräusch zu gewolltem Klang.
III
In Konsequenz der durch die Dadaist*innen und Kurt Schwitters angestrebten Dekonstruktion sowie Durchdringung von Sprache und ihrer Bedeutungszusammenhänge geht Schwitters noch einen Schritt weiter und kündigt den gänzlichen Verzicht auf Sprache und Narration im Kontext der Aufführungssituation an. In einem Beitrag für die Zeitschrift Der Ararat (1920) erläutert Schwitters erstmals das von ihm entwickelte Prinzip Merz, das er in Bezugnahme und Abgrenzung zu Dada als seine eigene Kunstform etablierte. In diesem Zusammenhang konzipierte Schwitters die Merzbühne (1919), die zur Aufführung des Merzbühnenwerkes dient und Merzgesamtkunstwerk ist, indem alle Kunstarten zur künstlerischen Einheit zusammenfinden.[11]
Schwitters beschreibt die Merzbühne wie folgt: «Die Merzbühne kennt nur die Verschmelzung aller Faktoren zum Gesamtwerk. Materialien für das Bühnenbild sind sämtliche feste, flüssige und luftförmige Körper, wie weisse Wand, Mensch, Drahtverhau, Wasserstrahl, blaue Ferne, Lichtkegel. […] Materialien für die Partitur sind sämtliche Töne und Geräusche, die durch Violine, Trommel, Posaune, Nähmaschine, Ticktackuhr, Wasserstrahl usw. gebildet werden können. Materialien für die Dichtung sind sämtliche den Verstand und das Gefühl erregende Erlebnisse.»[12] Die verwendeten Materialien werden unabhängig vom ihrem Gebrauchswert und nicht logisch in ihren gegenständlichen Beziehungen verwendet, sondern nur innerhalb der Logik des Kunstwerkes.[13] Die Merzbühne fordert die Gleichberechtigung aller Materialien im Kontext der künstlerischen Umsetzung der Merzbühnenwerke.[14]
«Das Kunstwerk entsteht durch Abwerten der einzelnen Faktoren gegeneinander.»[15] Schwitters leitet dieses künstlerische Vorgehen aus dem Abbilden der Natur und den damit zusammenhängenden Übersetzungen her, wobei er das Abstimmen der Bildelemente ganz grundsätzlich als Zweck und nicht als Mittel der Kunst für ihre Zwecke erkannte. Schwitters nimmt nicht nur Bezug zur Malerei, sondern bezieht sich in der Herleitung der künstlerischen Strategie im Merzbühnenwerk ebenso auf die Dichtung: «Wie man bei der Dichtung Wort gegen Wort wertet, so werte man hier Faktor gegen Faktor, Material gegen Material».[16] Das «Gegeneinanderwerten» der Elemente kann als Prozess verstanden werden, indem die Materialien «entformelt» und als «Form-Teile» in Beziehung zueinander gestellt werden, wodurch Bedeutung produziert wird. Schwitters versteht die Aufgabe von «Merz in der Welt» darin, Gegensätze auszugleichen und Schwerpunkte zu verteilen, weshalb es im Gegeneinanderwerten darauf ankommt, das für das Kunstwerk charakteristische Gleichgewicht herzustellen.[17] Das Publikum gilt ebenfalls als Material, das im Merzbühnenwerk gewertet wird und ist, wie alle anderen Faktoren auch, an seine Mittel gebunden, die es ihm ermöglichen, schöpferisch tätig zu sein: «Der Beifall, die Entscheidung für das Kunstwerk, das ‹Pro›, das alle Kräfte belebt und anfeuert, das Schweigen, das aller Auslegung fähig ist und zur Vorsicht rät, auf alle Fälle eine gewisse Spannung erzeugt, und endlich das Missfallen, die Entscheidung gegen das Dargebotene, das ‹Contra›, das ebenfalls als schöpferische Kraft ausgenutzt werden muss, weil es durch Heranführen neuer Mittel umgestimmt und gewertet werden kann und umgestimmt werden muss.»[18] Der «Wert des Publikums als Kunstfaktor» liegt darin, dass es unbefangen an das Kunstwerk herantritt und es auf sich einwirken lässt, wobei jede Haltung des Publikums, ob aktiv oder passiv, als Faktor gewertet werden kann und insofern Einfluss auf das Kunstwerk hat. Schwitters betont, dass die «letzte Entscheidung über den Wert des Gesamtkunstwerkes beim Publikum» liegt.[19]
IV
Homi K. Bhabha geht davon aus, dass jede (inter-)kulturelle Begegnung mit Übersetzungsprozessen einhergeht, die sich in Missverständnissen, Teilverständlichkeiten, sprachlichen Verwechslungen oder Neuschöpfungen äussern und in jedem Fall eine Verschiebung vorherrschender Machtgefüge bedingen. Bhabha versteht Übersetzung hier als kulturellen Mechanismus der Hybridität und geht nicht von einem konventionellen Verständnis von Übersetzung aus, indem das «Original» und die «Übersetzung» (wie beispielsweise Quell- und Zielsprache) in einem dichotomen Verhältnis zueinander stehen.[20] In diesem Sinne ist Übersetzung nicht als schlichte Übertragung zu verstehen, sondern vielmehr als eine Art «Trans-formation», die eine Neuschreibung impliziert. Im Prozess der Übersetzung von Elementen, sind diese «weder das Eine […] noch das Andere […], sondern etwas weiteres neben ihnen, das die Begriffe und Territorien von beiden in Frage stellt.»[21] Folglich sind Selbstentfremdung und Neuartikulation Teil jedes Übersetzungsprozesses. Zwei Aspekte sind hierbei besonders wichtig: Erstes findet kulturelle Übersetzung nicht nur zwischen Kulturen, sondern auch innerhalb «einer» Kultur zu Entfremdungseffekten, die zu Hybridisierung führen, wobei alle vermeintlich «stabilen kulturellen Elemente, wie etwa kulturelle Normen, in translationale Prozesse involviert und damit dynamisiert» werden.[22] Zweitens ist Übersetzung hier nicht als Angleichung oder schlichte Nachahmung des Originals zu verstehen. Im Prozess der Übersetzung kann das «Original» durch Selbstentfremdung nicht als «fixiertes» gespiegelt werden, da es bereits instabil und prozessual ist. Bhabha geht vielmehr davon aus, dass das «Original» sich durch das imitierte Bild komplettiert.[23]
V
Die Aufführung, verstanden als «Bereich und Ergebnis des Kulturkontaktes»[24], konstituiert sich aus gegebenen Machtverhältnissen und ist stets von ihren Akteur*innen, Adressat*innen, dem Ort und der Zeit der Aufführung sowie von den institutionellen und historischen Zwängen geprägt ist. In diesem Sinne ist die Aufführung ein konflikthafter Raum, in dem kulturelle Differenzen sowie Bilder des «Eigenen» und «Fremden» verhandelt werden und vermeintlich stabile Beziehungen ins Wanken geraten können.
Beziehungen schaffen – Schwitters Definition von Merz[25] («Merz bedeutet Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt»[26]) legt nahe, dass die Welt sich aus Beziehungen zusammensetzt, indem das Einzelne im Zusammenhang und in direkter Verbindung mit etwas Ganzem steht. Durch die Bewegung des Einzelnen verändert sich seine Beziehung zur Umgebung, weshalb sich die Dinge der Umgebung ihrerseits gleichermassen verändern müssten.[27] Analog dazu lässt sich die Übersetzung verstehen, wie sie Bhabha skizziert, da unweigerlich alle Elemente von dem Prozess der Übersetzung betroffen sind und durch sie in Bewegung versetzt werden. Mit Blick auf die im Kulturkontakt bestehenden Übersetzungsprozesse kann deshalb davon ausgegangen werden, dass im Kontext der Aufführung Zeichen gelesen, gedeutet und missverstanden werden, wobei sich Entfremdungseffekte einstellen: Im Prozess der Übersetzung von A zu B, taucht das «Fremde» B im «Eigenen» A auf, wobei gleichzeitig der gedeutete Inhalt B seinerseits «verfremdet» wird, sich neuartikuliert und darüber hinaus durch die Deutung von A ergänzt. Soweit finden die Ansätze von Schwitters und Bhabha an dieser Stelle Übereinstimmung, aber es gibt auch Unterschiede: Schwitters sieht «die Aufgabe von Merz in der Welt» darin, ein Beziehungsgleichgewicht herzustellen, in dem Gegensätze ausgeglichen und Schwerpunkte verteilt werden.[28] Bhabha hingegen würde keinen Zustand intendieren, indem sich Kulturen und Subjekte innerhalb und untereinander ausgeglichen hätten und ihr Dasein von einem Moment der «Unbeweglichkeit» und «Stabilität» geprägt wäre, da er sie gerade nicht als abgeschlossene Konstrukte versteht.
Hybride Körper: Das Fremde im Eigenen und das Eigene im Fremden – Das Merzbühnenwerk ist im Sinne von Bhabha auf Übersetzungs- und Hybridisierungsprozesse angelegt, da sich die Elemente nicht nur in permanenter Bewegung befinden, sondern sich durch Entfremdungseffekte auch ständig neu artikulieren. Das Moment der Entfremdung findet sich ebenfalls in Schwitters Merzbühnenwerk, die er als «Entmaterialisierung» beschreibt. Das Material wird im Akt des Gegeneinanderwertens aus seinem Bedeutungszusammenhang gelöst und bewegt sich zwischen zwei (oder mehreren) Zuständen hin- und her, weshalb es als hybrider Körper auftritt und mit Bhabha als «weder das Eine noch das Andere» bezeichnet werden kann. Jene hybriden Körper werden in ein neues Gefüge gestellt und demnach nicht nur verwendet, sondern auch verwandelt, wobei sie in neue Zeichen- und Denksysteme übertragen werden. Diese Übersetzungsprozesse können im Sinne Bhabhas als «Trans-formation» verstanden werden, in der sich gleichermassen etwas Neues artikuliert. Der*die Merzer*in operiert im Merzbühnenwerk nicht nur mit Körpern aus jeglichem Material, sondern auch mit sämtlichen «den Verstand und das Gefühl» erregenden Erlebnissen.[29] Demzufolge werden die Reaktionen des Publikums, die durch unterschiedliche Bewusstseinszustände, Erinnerungen oder Assoziationen ausgelöst werden, aktiv als Faktor gewertet. Das Publikum erlebt ein doppeltes Moment der Entfremdung; nicht nur durch die (vom Publikum selbst vollzogenen) Übersetzungsleistungen, sondern auch in der Spiegelung durch den*die Merzer*in. Diese*r ist zwar Leiter*in, also Schöpfer*in des Gesamtkunstwerkes und leitet die Kräfte die aus dem Material selbstständig hervorkommen, jedoch gleichzeitig auch Geleitete*r und demnach Teil des Publikums, wie Schwitters beschreibt. Indem die Materialien aus ihrem logischen und narrativen Zusammenhang gehoben werden, entstehen nicht nur neue Bilder, Konstellationen, Situationen und Bedeutungen, die auf das Gewusste und Ungewusste einwirken, sondern es können auch vorherrschende Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten dekonstruiert werden. Mit Blick auf die Aufführungssituation im post_kolonialen Kontext bedeutet dies, dass sich die teilnehmenden Subjekte als hybride Körper verstehen lernen.
[S=O] – Die Rolle des Publikums im Merzbühnenwerk wird von Schwitters besonders hervorgehoben, da er darauf abzielt es aus «seiner Rolle des blossen Zuschauers» [S>O] zu befreien.[30] Mit Blick auf die Situation des Kulturkontakts lässt sich mit Bhabha das ambivalente Verhältnis zwischen dem Zuschauer («Subjekt») und dem Dargestellten («Objekt») verstehen. Subjekte sind Bhabha zufolge in einem permanenten Prozess der Hybridisierung, indem das Gegenüber zugleich als begehrend und abstossend markiert ist und Bilder des «Eigenen» und «Fremden» hybrid werden. Die Differenz zum Anderen zeichnet sich hier durch die Verbindung in der Abgrenzung aus, wodurch Identität permanent neu verhandelt wird. In Übertragung auf die Aufführungssituation und vor dem Hintergrund kultureller Machtverhältnisse können jene Prozesse auf die Zuschauer*innen und die Akteur*innen übertragen werden. Die unabhängige und distanzierte Rolle des betrachtenden Subjektes wird hier als machtvolle Position verstanden, die ihm verweigert werden kann, indem sie «sichtbar» wird. Schwitters produziert diese «Sichtbarkeit», indem er das Publikum verdinglicht und als gleichberechtigtes Material [S=O] ins Merzbühnenwerk einbezieht. Das Publikum ist demzufolge vom Geschehen auf der Bühne nicht mehr getrennt, sondern wirkt unabhängig von seiner Haltung oder seinen Handlungen aktiv schöpferisch darauf ein. Mit Bhabha könnte man sagen, dass sich die Subjekt- und Objektpositionen kultureller Machtgefüge im permanenten Prozess der Aushandlung [S><O] befinden. Mit Schwitters könnte man einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass sich die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt gänzlich aufheben [S=O].
Subversive Bühne im post_kolonialen Kontext – Der Prozess der Übersetzung produziert – im Dazwischen – einen Moment, der nach Bhabha «fremd und unübersetzbar» bleibt. Das Unübersetzbare gilt hier als widerständiger Kern, der Differenz markiert und darin subversiv wirken kann.[31] Noch deutlicher lässt sich das Widerständige in Bhabhas Konzept der «Mimikry» nachvollziehen, das er als performative Verfahrensweise versteht. Hier werden Aspekte des mächtigen Anderen täuschend ähnlich zum Eigenen gemacht, wobei ein ungreifbares Moment der Differenz bestehen bleibt, das durch Verunsicherung koloniale Autorität zu unterwandern fähig ist.[32] Schwitters beschreibt, dass die Materialien im Gegeneinanderwerten «entformelt» und als «Form-Teile» im Merzenbühnenwerk verwendet werden. Obwohl unbestimmt bleibt, was die «Form-Teile» des Publikums, des*der Merzer*in, des Raumes oder ihrer Beziehungen zueinander sein können, ist davon auszugehen, dass allen Faktoren trotz ihrer potenziellen Veränderbarkeit etwas «Eigenes» bleibt. Dieser Eindruck verstärkt sich insofern als dass die Faktoren an ihre eigenen Mitteln gebunden sind, die es ihnen erlauben schöpferisch tätig zu sein. Folglich kann eine Analogie zwischen Bhabhas «unübersetzbarem Rest» und Schwitters «entformelten Form-Teilen» gelesen werden: Im Akt des Gegeneinanderwertens – der zugleich Übersetzung und Neuartikulation bedeutet – sind die Materialien «weder das Eine noch das Andere», wobei sie in diesem Dazwischen als Form-Teile «erkennbar» bleiben. Jene «Erkennbarkeit» wird mit Bhabha als das «Unübersetzbare» gedeutet. Mit Blick auf den Kulturkontakt im Moment der Aufführung kann jener Prozess auf diverse Elemente der Wirklichkeit, die kulturell gedeutet werden können, angewendet werden. Gleichzeitig findet sich hier das Potenzial gegebene Machtverhältnisse und darin fixierte Blick- und Denkweisen sichtbar bzw. erfahrbar zu machen, wodurch eine subversive Verschiebung dergleichen ermöglicht wird.
VI
In den bisherigen Ausführungen hat sich gezeigt, dass Abgrenzungen, Unübersetzbarkeit, Umdeutungen, Verwandlungen, Aneignungen, Entfremdungsprozesse, Verwechslungen im Kulturkontakt nicht nur unauflöslich, sondern auch notwendig sind, um überhaupt einen Raum TEILEN zu können.
Ein inter-____ Wort – Dada («Ein internationales Wort. Nur ein Wort und das Wort als Bewegung»[33]) verdeutlicht aufs Einfachste, wie dieser geteilte Raum aussehen könnte: Ein Wort, das verbindet und nicht trennt, gerade weil es wandelbar, heterogen und polysemantisch ist. «Dada» war der gemeinsame Nenner für Differenzen und Widersprüche sowie geprägt von Mehrfachzuschreibungen und Mehrfachzugehörigkeiten; es bedeutete sowohl Alles als auch Nichts. Als Instrument gegen Nationalismus, Herrschaft, kapitalistische Ausbeutung und Krieg entwickelten die Dadaist*innen eine «trans-nationale und -lationale» Ausrichtung, die zu einem Netz aus Beziehungen und zu einer «weltumspannenden» Bewegung führte. Auch wenn die Realität der Dadaist*innen ebenfalls von Ein- und Ausschlüssen geprägt war – da sie sich aus einer Gruppe von bürgerlich Intellektuellen zusammensetzten, die ausser-europäisches Denken zwar wertschätzten, jedoch auch exotisierten und darüber hinaus nicht nur für eine eurozentristische, sondern auch für eine patriarchale Geschichtsschreibung sorgten – kann sich zumindest in ihren Ansätzen auf sie bezogen und diese unter Berücksichtigung solcher Problematiken erweitert werden.
Global ____ – Der Turmbau zu Babel symbolisiert nicht nur den «Ursprung der Sprachverwirrung»[34], sondern auch das Streben nach Globalität. Dieses Vorhaben ist kritisch zu beurteilen, da es «Komplexitätsreduktion» bedeutet und dem Verständnis von kultureller Differenz und damit einhergehenden Übersetzungsprozessen genau entgegensteht.[35] Aktuelle Tendenzen wie das Begehren einer globalen Bürgerschaft, Sprache, Ökonomie und Geschichtsschreibung zeigen aber, in Analogie zu dem Vorhaben der Menschen von Babel, wie verlockend und mächtig die Vorstellung von Einheit und Geschlossenheit ist. Alle Bestrebungen die auf Vereinheitlichung abzielen, bergen jedoch die Gefahr der Begünstigung technologischer Vereinnahmung, kapitalistischer Ausbeutung und politischer Unterdrückung.
Can the object speak? – Bhabha beschreibt kulturelle Übersetzung «as a way of understanding the world, not to reduce it to one language, but to understand the world by understanding translation, giving any particular cultural tradition or cultural text its own space.»[36] In Abgrenzung zu «globalen» und letztlich einseitigen Konzepten, sowie im Zusammenhang mit dem Anliegen der Überwindung hegemonialer Systeme, sollte die Auslegung der Merzbühne als Aufführungsraum im Kontext inter-kultureller Begegnung verdeutlichen, dass es gerade notwendig ist, den Blick auf die Wechselwirkungen «dazwischen» zu verschieben. Diese Perspektive ermöglicht nicht nur, duales Denken zu unterwandern, sondern ALLE TEILE in ihrer un-bedingten Verbindung zu erkennen. Folglich gilt es Räume zu schaffen, indem scheinbar eindeutige kulturelle Differenzen in Bewegung versetzt und Beziehungen neu entworfen werden können. Kann man «zuhören», ohne das Gegenüber zu verstehen?
Der vorliegende Text basiert auf dem Zollfreilager-Beitrag «CAN THE PRIVILEGED LISTEN?» derselben Autorin.
[1] Hugo Ball: Eröffnungsmanifest, 14. Juli 1916 im Zunfthaus zur Waag, Zürich. In: Riha, Karl (Hg.): Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente. Stuttgart: Reclam 2015, S. 30
[2] Suzuki, Daisetz T.: Die grosse Befreiung. Einführung in den Zen-Buddhismus. München: O.W. Barth Verlag 1980, S. 97
[3] Hirsch 1997, S. 123
[4] Suzuki 1980, S. 80
[5] Arp, Hans: Unsern täglichen Traum. Erinnerungen, Dichtungen und Betrachtungen aus den Jahren 1914-1954. Zürich: Arche Verlag 1955, S. 50
[6] Tagebucheintrag vom 12.06.1916. In: Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. Zürich: Limmat Verlag 1992, S. 98
[7] Tristan Tzara: Manifest 1918, 23. Juli 1918 im Zunfthaus zur Meise, Zürich. In: Riha 2015, S. 37
[8] Hugo Ball: Eröffnungsmanifest, 14. Juli 1916 im Zunfthaus zur Waag, Zürich. In: Ebd., S. 30
[9] Vgl. Konsequente Dichtung (1924). In: Lach, Friedhelm: Kurt Schwitters. Das literarische Werk. Manifeste und kritische Prosa. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2003, S. 190
[10] Die «Ursonate» wurde von Kurt Schwitters zwischen 1921 und 1932 in verschiedenen Versionen erarbeitet. Inspiration für das Lautgedicht erhielt er 1921 in Prag, wo Rauol Hausmann sein Plakatgedicht «fmsbwtözäupggiv-..?mü» aufführte. Die Tonaufnahme der gesamten ca. 45-minütigen Ursonate wurde erst 1956 nach Schwitters Tod von seinem Sohn Ernst realisiert, bis dahin wurden 1925 und 1932 lediglich Ausschnitte der Ursonate dokumentiert. Trotz typographischer Fixierung, nahm die Ursonate bis zuletzt und in jedem Vortrag eine neue Gestalt an. Eine Interpretation des Werks von William Kentridge kommt anlässlich des Theater Spektakel 2019 zur Aufführung.
[11] Vgl. Merz (Für den Ararat geschrieben 19. Dezember 1920). In: Lach 2003, S. 79
[12] Ebd., S. 79
[13] Vgl. Ebd., S. 80
[14] Vgl. Aus der Welt: Merz (1923). In: Lach 2003, S. 154
[15] Ebd., S. 163
[16] Ebd., S. 42
[17] Vgl. Die Bedeutung des Merzgedankens in der Welt (1923). In: Lach 2003, S. 134
[18] Aus der Welt: «Merz» (1923). In: Lach 2003, S. 166
[19] Ebd., S. 166
[20] Vgl. Struve, Karen: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2013, S. 131
[21] Ebd., S. 133
[22] Ebd., 132f.
[23] Vgl. Ebd., S. 133
[24] Ebd., S. 98f.
[25] Die Zusammenführung der Konzepte von Bhabha und Schwitters hat zur Konsequenz, dass dem künstlerischen Anspruch von Schwitters im Zusammenhang mit der Merzbühne keine vordergründige Bedeutung eingeräumt wird.
[26] Merz (1924). In: Lach 2003, S. 187
[27] Vgl. Nündel, Ernest (1981): Kurt Schwitters in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg: Rowohlt Verlag, S. 28
[28] Vgl. Schaub, Gerhard (1993): Bürger und Idiot. Beiträge zu Wirkung und Wirkung eines Gesamtkünstlers. Berlin: Fannei & Walz, S. 56
[29] Vgl. 1 Die Merzbühne (1919). In: Lach 2003, S. 42
[30] Vgl. Aus der Welt: Merz (1923), In: Lach 2003, S. 166
[31] Vgl. Struve 2013, S. 136ff.
[32] Vgl. Ebd., S. 143ff.
[33] Hugo Ball: Eröffnungsmanifest, 14. Juli 1916 im Zunfthaus zur Waag, Zürich. In: Riha 2015, S. 30
[34] Hirsch 1997, S. 126
[35] Vgl. Struve 2013, S. 133
[36] Ebd.
Spezialausgabe
Turmbau zu Babel
Laura Sabel (*1990) ist Kunst- und Kulturwissenschaftlerin und arbeitet seit 2015 als Kulturvermittlerin im Cabaret Voltaire. Ihre Interessen liegen im Bereich kultureller Praktiken sowie der postkolonialen Kritik.