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Natacha Rothenbühler

Bodenlos

Ein Ich träumt sich unter der Fuchtel einer Traummeisterin von Schreckmoment zu Schreckmoment.

Unaufhörlich schiebe ich meine Zähne aufeinander. Ich presse meinen Unterkiefer gegen den oberen und drücke nach vorne. Schmerz. Wären meine Augen offen, wären sie weit aufgerissen. Ich kann nicht aufhören. Wieder und wieder hole ich Anlauf, bewege meinen Unterkiefer nach hinten, nur um ihn wieder nach vorne zu stossen. Mit den unteren Zähnen drücke ich die oberen weg. Ich weiss, was kommt. Ich kann es nicht verhindern. Ein Zahn bricht ab. Der zweite. Unweigerlich fallen immer mehr Zähne heraus. Verzweiflung und Ohnmacht breiten sich in mir aus. «STOP!», versuche ich zu schreien, doch alles, was aus meinem Mund kommt, sind abgebrochene Zähne. Ich rase durch einen grellen Tunnel.

Plötzlich liege ich nackt und bewusstlos auf einem Sitz in der S-Bahn. Vogelperspektive. Menschen gehen an mir vorbei, schütteln verächtlich den Kopf. Ich denke: «Fuck, nun hast du es zu weit getrieben.» Ich bin mir sicher, dass ich zu viel konsumiert habe und nun bezahlen muss für meinen Fehltritt. Ich möchte den anderen Menschen im Zug zurufen «Schaut mich nicht so an, gebt mir doch etwas zum Anziehen», aber ich kann mich weder bewegen noch sprechen. Eine lähmende Ohnmacht erdrückt mich. Alles Aufbegehren hilft nichts, mein Körper bleibt reglos, meine Stimmbänder sind durchschnitten. Ich halte mir die Ohren zu und presse meine Augen so fest zusammen, dass ein Schmerzblitz meinen Kopf spaltet. Ich will raus hier!

Dann ist auf einmal Spätsommerabend. Ich bin ein Kind. Nach dem Abendessen gehe ich noch einmal raus auf die Terrasse, um meine Flipflops ins Haus zu nehmen. Über das Geländer schaue ich auf die Quartierstrasse runter. Die Strasse ist ausgehoben, in ihr stehen Bauarbeiter in orangen Leuchtwesten. Ich beobachte, wie sie an einem Kontrollzentrum hantieren. Einer drückt einen Knopf. Sofort löst sich ein Betonquadrat aus der Strasse, gleitet geräuschlos ein paar Meter hinunter auf das Niveau der Bauarbeiter. Es macht mir Angst. «Die dürfen das doch nicht», denke ich. Plötzlich blickt einer der Männer zu mir hoch, sie haben mich entdeckt. Ein Piepsen ertönt und die Steinplatte knapp neben meinem rechten Fuss rauscht runter ins Erdreich. Ich verliere den Boden unter den Füssen und stürze, mein Arm hängt in das tiefe Loch hinein. Wieder höre ich das Piepsen, von zwei Seiten fährt eine Steinplatte auf mich zu, mein Arm ist eingeklemmt,ich kann nicht aufstehen. Die Rufe der Bauarbeiter kommen näher. Ich bin stumm. Gerade noch sehe ich, wie sie einer nach dem andern über das Geländer unserer Terrasse steigen und auf mich zukommen.

Verschwitzt wache ich auf. Ich bin in meinem Zimmer. Instinktiv fasse ich nach meinem Arm und meinen Zähnen – sie sind da, zum Glück. Ich rapple mich in meinem Bett auf.

Unangekündigt platzt meine Psychologin in mein Zimmer, baut sich vor mir auf, spricht von unterdrückter Wut und Angst. Sie hält ein lilafarbenes Notizheft in den Händen und überreicht es mir, als wäre es ein wertvoller Schatz. Ist sie die Traummeisterin? «Das ist Ihr neues Traumtagebuch. Sie müssen sich Ihren Emotionen stellen.» Ich lache gehässig und sage ihr, sie könne sich wieder melden, wenn sie mir schöne Träume schicke. So wie früher, als ich regelmässig im Traum auf Weltraumreise gehen konnte. Oder die Schwerkraft aufgehoben war, und ich mich mit hohen Salti durch die Welt bewegen konnte. Die Traummeisterin verschwindet durch eine Geheimtür hinter meinem Spiegel.

Genervt stehe ich auf und schaue mir im Spiegel zu, wie ich mein Lieblingsoutfit anziehe. Mein Ex will sich mit mir auf einen Kaffee treffen. Wir sprechen über uns und was falsch gelaufen ist in unserer Beziehung. Sofort ist die altbekannte Nähe zueinander wieder da. Gemeinsam lassen wir Erinnerungen aufleben, sagen uns, wie sehr wir einander mögen und wie gut wir zusammenpassen. Aus einer Umarmung wird ein inniger Kuss. Ich erinnere mich an seinen Geschmack und alles ist gut. Das Bild löst sich vor meinen Augen auf und zurück bleibt Schmerz. Ich muss raus, gehe feiern. Meine Schwester stösst dazu, sie sieht mich prüfend an. «Du musst mal richtig loslassen, die Kontrolle abgeben.» Der Bass dröhnt in meinen Ohren, ich gebe mich der Musik hin und schliesse die Augen.

Meine Schwester sitzt auf dem Beifahrerinnensitz, ich bin am Steuer. Wir machen uns auf den Nachhauseweg nach einem ausgelassenen Abend. Ich fahre nie, wenn ich getrunken habe, aber an diesem Abend geht es nicht anders. Mehrere Stunden im Dunkeln auf der Hauptstrasse heimwandern oder im Auto übernachten – die beiden Optionen überzeugen uns nicht und wir fahren los. Ausserorts bemerke ich zu spät, wie eine Person auf die Strasse tritt. Mit vollem Tempo rase ich in sie hinein und sehe, wie ein abgetrenntes Bein mit einem Converseschuh über die Windschutzscheibe fliegt. Zitternd bringe ich das Auto zum Stehen und drehe meinen Blick in Zeitlupe zum Beifahrerinnensitz. Der angsterfüllte Ausdruck im Gesicht meiner Schwester spiegelt meinen wieder. «Jetzt ist es passiert», flüstere ich abermals. Kurz kommt mir der Gedanke der Fahrerinnenflucht. Die Scheibe ist blutverschmiert. Jetzt ist es passiert.

Es ist fünf Uhr morgens und ich kann nicht mehr einschlafen. Warum träume ich so etwas ausgerechnet in meinen Sommerferien in Griechenland? Später am Tag muss ich mit dem Mietauto eine schwierige Strecke zurücklegen. Mit auf der Reise sind meine beste Freundin und die Traummeisterin. Die sitzt hinten im Auto. Im Rückspiegel sehe ich sie den Kopf schütteln. «Sie haben das falsch verstanden. Ihre Träume sollten dazu da sein, Vergangenes zu verarbeiten oder sich auf Künftiges vorzubereiten. Nehmen Sie sich zusammen. Solche Horrorszenarien bringen Sie nicht weiter.» Ich bedeute ihr zu schweigen. Meine beste Freundin will ich erst später einweihen, wenn wir das Auto sicher zurück zur Vermietungsagentur gebracht haben. Ich sage ihr, dass ich auf der Reise kein Auto mehr mieten möchte.

Als enge Freundin weiss sie auch von meinen anderen Träumen und meint, vielleicht sei das Schlafen der einzige Zeitpunkt, in dem meine Gedanken so richtig frei und ohne Filter sind. Die Traummeisterin nickt wissend und tippt am Computer mit. Das stört mich. Ich versuche, einen Blick auf meine Akte zu erhaschen. Sie wehrt sich und ich stosse sie zu Boden. Der Laptop fällt hinunter in die grüne schleimige Flüssigkeit, die aus der Traummeisterin ausläuft. Egal. Alles, was mich interessiert, sind ihre Notizen über mich. Ich fische den Laptop aus dem Sud und wische die Scheibe mit meinem Ärmel ab.

«Träumerin nrcf170797. Durch den Alltag bewegt sie sich sehr kontrolliert. Stufe 5/6. Über Gefühle spricht sie nur mit engsten Bezugspersonen. Ausnahme: innerer Dialog. Auseinandersetzungen meidet sie. GrossesBedürfnis nach korrektem Verhalten, Eigendruck hoch. Fehlerkultur: mässig vorhanden. Perfektionismus abbauend, aber immer noch stark ausgeprägt.

Unkontrolliertes und wildes Traumerleben wegen fehlender Kontrollabgabe im Alltag. Einzige Ausnahmen: Trunken- oder Verliebtheit. Durch Träume induzierte Angstzustände. Weiter beobachten, bei Bedarf eingreifen.»

Die Härchen auf meinen Unterarmen stellen sich auf. Ich bin doch nicht abnormal. Ich habe nicht nur schlimme Träume. Manchmal sind es bloss fantastische Geschichten, weder gut noch böse, einfach absurd. Ich finde mich in einer Stadt wieder, die mich an Barcelona erinnert. Es ist helllichter Tag und ich verlasse die Uni. Weil mir der Heimweg so endlos vorkommt, entscheide ich mich, zu fliegen. Ich weiss, dass ich das eigentlich nur in der Nacht darf, wenn mich niemand sehen kann. Egal. Ich fliege los, Superwomanstyle. Irritiert bemerke ich, wie mich die Leute unter mir anstarren und Fotos schiessen.

Zuhause kriege ich prompt ein Telefon der Traummeisterin. Meine unbedachte Aktion sei bereits überall in den Nachrichten. Ich müsse sofort in eine andere Stadt ziehen. Also räume ich mein Zimmer aus – es sieht aus wie mein ehemaliges WG-Zimmer– und packe meine Koffer. In der Kommode kommen zweijährige Essensreste zum Vorschein. Mein Mitbewohner verzieht das Gesicht. Vor dem Fenster taucht eine Frau mit langen schwarzen Haaren auf. Ihr Blick ist kalt, sie will mich und meine ganze Familie umbringen. «JETZT REICHT ES MIR!», schreie ich sie an. «ICH WILL DAS NICHT MEHR! FERTIG ALBTRÄUME!!». «Aha, sagen Sie das doch einfach.» Die unheimliche Frau verwandelt sich in die Traummeisterin und lächelt mich mitfühlend an. Versöhnlich streckt sie mir ihre Hand zu. «Herzlich willkommen, Sie befinden sich jetzt in einem Klartraum. Sie haben gemerkt, dass Sie träumen – herzliche Gratulation! Sie sind frei, das zu tun, was sie wollen.»

«Weg von dir», denke ich mir. Sage aber nichts, sondern schwebe zum Fenster hinaus. Draussen wartet mein Drachen. Ich steige auf und wir fliegen los, immer weiter hinauf, bis mir die Luft ausgeht. Das ist genug. Ich bitte den Drachen, mich in New York City abzusetzen. Inmitten der Hochhäuser habe ich dort mein Tanzstudio. Ich will die Pirouette schaffen. Ganz genau visualisiere ich jede kleinste Bewegung und wiederhole sie so oft, bis sie sitzt. Nach dem Training treffe ich mich mit all meinen Freundinnen auf Pizza & Tiramisu. Ich küsse den Koch und er wirbelt mich und die Pizzateiglinge durch das Lokal.

Was könnte ich als nächstes tun? Ich sollte diesen luziden Zustand ausnützen, um weitere Dinge zu lernen. Die Traummeisterin flüstert in mein Ohr: «Luzides Träumen kann Albträume vertreiben und die sportliche Leistung verbessern. Alles zur Technik für Klarträume erfährst du von mir.» Ihre Effizienz widerstrebt mir. Noch mehr Leistungssteigerung, Selbstoptimierung, Kontrolle in allen Lebensbereichen? «Hören Sie mal, es kann doch nicht sein, dass Sie mir suggerieren, ich müsse jetzt auch noch aus meinem Schlaf und aus meinen Träumen Kapital schlagen? Der Tag ist schon genügend durchökonomisiert!»

Die Augenbrauen der Traummeisterin schnellen in die Höhe. «In der Leistungsgesellschaft sollte menschwenn möglich bereits vor der Arbeit oder der Uni Sport getrieben haben, während dem Pendeln arbeiten, beim Zähneputzen noch schnell die Physio-Übungen machen. Wie praktisch. Möglichst keine Sekunde verlieren.» – «Sich einfach mal fallen lassen, nichts tun müssen? – «Das liegt nicht drin.» Ihr Bleistift fliegt über die Seiten ihres Notizbuchs. Sie unterbricht mich nicht. «Sehen Sie doch, wenn ich mich dem Nichtstun hingebe, habeich sofort ein schlechtes Gewissen; habe das Gefühl, ich habe Zeit verschwendet. Ständig liefern, leisten, optimieren. Im Beruf, an der Uni, im Privaten. Das ist doch krank.» Die Traummeisterin entgegnet nur: «In der Tat, ein Viertel aller erwerbstätigen Schweizer:innen ist burnoutgefährdet.» Diese Zahl, so tragisch sie auch ist, wirkt paradoxerweise fast ein wenig beruhigend auf mich.

«Keine Angst, das luzide Träumen ist vollkommen ungefährlich. Sie können ja ständig überprüfen, ob Sie wach sind oder träumen. Ich kenne die besten Reality Checks», funkt die Traummeisterin dazwischen. «Dazu müssen Sie nur Ihre Hand anschauen. Wenn Sie sechs Finger sehen, oder Finger, die aus Fingern wachsen, ist das ein sicheres Zeichen, dass Sie träumen.» Mir klingt das alles zu sehr nach ‘Inception’ und Cobbs Kreisel. Dort habe ich vor allem eins gelernt: besser nicht an Träumen rumschrauben. Das Ganze ist mir unheimlich. Es kann doch nicht gesund sein, wenn ich mich im Schlaf immer fragen muss, ob ich wach bin oder schlafe. Wo bleibt da die Erholung? Andererseits, wenn ich meine Albträume habe, bin ich auch nicht ausgeruht… Egal, ich lasse mich fallen.

Als ich die Augen öffne, bin ich auf einem Zahnarztstuhl. Ich habe ein Loch. Was kaputt ist, muss repariert werden. Nachdem das Loch gefüllt ist, fahre ich mit meiner Zunge zu der Stelle, wo nun ein Fremdkörper zu spüren ist. Das Zusammenbeissen irritiert mich, meine Zähne liegen anders aufeinander. Ich presse meinen Kiefer einige Male zusammen und löse den Biss wieder. «Scheisse», denke ich mir, «das fühlt sich falsch an.» In Gedanken versunken verlasse ich die Praxis und erforsche mit meiner Zunge die neue Füllung. Ich weiss, was kommt. Meine Zunge wird zu einem Abbruchhammer und fängt an, einen Zahn nach dem anderen herauszuhämmern. Ich ertappe mich dabei, wie ich meine Hand untersuche.

Langsam weiss ich nicht mehr, was ich denken soll. Der Zeitgeist des Alles-Verbessern-und-Kontrollieren-Müssens stört mich. Aber die Möglichkeiten der Traumsteuerung haben mich nicht unberührt gelassen. «Sie sind Teil des Problems, eine unverbesserliche Selbstverbessererin», bekundet die Traummeisterin. Neben mir im Tram sitzt James Blake und singt mir ‘The Wilhelm Scream’ vor: «I don’t know about my dreams. I don’t know about my dreaming anymore. All that I know is I’m falling, falling, falling, falling».

Ich steige eine Treppe aus Lochgitter herunter, unter mir der Himmel. Aus dem nichts bricht eine Stufe entzwei und ich falle in die Tiefe.