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Olivier Christe

Bergluft. Erinnerungen an den Iran der 80er Jahre

Zürich 2014. Ich sitze in einer hellen Wohnung. Wenn einer so erzählt wie Aras, bin ich am Ort des Geschehens. Iran, Provinz Aserbaidschan, 1986.

Um mir die Klänge zu zeigen, holt er sein Instrument aus dem Schrank. Als Tar, den Grossvater der Gitarre, stellt er den kugeligen Körper mit dem langen Hals vor. Mit einem Holzkeil beginnt er über die Seiten zu springen und schlägt jeden Ton viele Male an. Ein metallisches Klirren wirft einen Vorhang aus Schwermut und Fatalismus in den Raum. Ich stelle mir vor, wie das Lied über den Platz in die iranischen Berge gleitet. Auf rund 3500 Meter über Meer – im Westen das Schwarze, im Osten das Kaspische – steht am Rand einer grossen Ebene im sonst steil abfallenden Hang ein langgezogener Barackenbau. Eine künstliche Fläche von ungefähr 50 auf 50 Meter. Vor der Revolution von den Amerikanern als Militärbasis erbaut, dient die Plattform heute als Basislager zur Besteigung des Vulkans Savalan, dem dritthöchsten Berg des Landes. Im Abstand von jeweils wenigen Metern brennen unzählige Feuer, um die sich die Bergsteiger und Bergsteigerinnen scharen. Die Gesichter scheinen im Licht des Feuers nur schemenhaft auf, doch ihre Stimmen sind klar zu hören. Sie singen. Ein Akkordeon stösst die Luft aus seinem faltbaren Innern und die Finger springen über die Tasten und Knöpfe links und rechts des Lederbauchs. Ein Mann tanzt im Kreis. Die Arme weit ausgestreckt. Rhythmisch tritt er mit dem rechten Fuss auf den Boden und scheint so die Rotation seines Körpers zu kontrollieren. Bärtige Gesichter blicken in die Nacht. Nur selten sind im Schein der Feuer die feinen Züge einer Frau zu erkennen, die im Schutz der bergigen Nacht ihren Schleier abgelegt hat.

Eine hagere Gestalt läuft von ihrem Beobachtungspunkt am Rand der Ebene in die Mitte des belebten Platzes. Auf ihr Zeichen hin verstummen hunderte Silhouetten wie die Figuren einer Kohlestiftzeichnung und setzen sich zielbewusst in Bewegung. Es bilden sich kleine Gruppen. In der entstandenen Stille ist der Motorenlärm eines Offroaders zu hören, der langsam die steile Strasse hinauffährt. Plötzlich prescht eine bestimmte, heisere Stimme darüber und singt stolz ein Lied in die Nacht.

Es gab immer ein paar Mutige, die dem Druck demonstrativ getrotzt haben. Menschen sind nicht wie Vögel. Bei einem Knall fliegen nicht alle auf.

Ich sitze Aras gegenüber in seiner Wohnung im Zürcher Quartier Altstetten. Sein Blick ist klar. Seine Finger sind lang und kräftig. Er hat graue, kurz geschnittene Haare. Die Haut ist hell, fast bleich. Er steht festgefroren in der Küche und hat vergessen – in seinen Händen ruht ein Plastiksack mit Kartoffelschnitzen, Rosmarin und Olivenöl – was er gerade tun wollte. Bewegungslos erzählt er mir von den iranischen Bergen. Solche Szenen, sagt er, haben wir viele erlebt. Die Berge waren für uns eine Möglichkeit, frische Luft zu atmen. Dies bringt ein Gefühl, bei dem dir eine innere Stimme sagt: Hey, wir leben noch! Die Kontrolle und das Musikverbot in der Stadt sind nicht alles. Es gibt den Leuten Hoffnung. Wenn in den Bergen irgendwo eine Gruppe sitzt, nicht zwingend politisch Aktive, die Musik spielt und singt, hören es auch die anderen. Auch sie geniessen es. Einer musste aber immer die Strasse im Auge behalten, um die Geländewagen der Revolutionsgarden rechtzeitig zu erblicken.

Die islamische Revolution von 1979 machte aus dem Iran einen Gottesstaat. Allah hatte ab diesem Zeitpunkt über das Schicksal seiner Schäflein zu entscheiden. Und Allah entschied hart. Keine Musik, keinen Tanz, keinen Alkohol, keinen Blick auf Frauenhaare. Und Allah entschied sich in einem Rausch. Er erliess immer mehr Verbote und ahndete das Übertreten dieser Verbote immer schwerer. Auf Erden erschien er meist in schweren, schwarzen Stiefeln und nahm ein paar besonders bockige Schäflein mit in seine Welt. Wie der trotzige Sänger an diesem Tag war Aras 13 Jahre später eines dieser Schäflein. Doch was er zu Gesicht bekam, war nicht Allah. Denn dieser schliesst niemanden in eine feucht-nasse, zwei Quadratmeter grosse Zelle. Er verbindet keine Augen, um beim Verhör unerkannt zu bleiben. Allah war weit weg von diesem Ort, an dem die selbsternannten Moralhüter den Wunsch auf grundlegendste Menschenrechte als Verbrechen bestraften. Allah sitzt nicht in einem Verwaltungsgebäude in Teheran.

Ich stehe auf Aras’ Balkon und beobachte die schmorenden Kartoffeln und Hähnchenschenkel über dem Grill. Der Geruch schlägt mir in die Nase und mischt sich mit dem des frisch geschnittenen Rasens zwischen den Hochhäusern. Aras blickt auf den sanften Hügel, der ein paar hundert Meter entfernt an die Stadt anschliesst. Auch hier in der Schweiz gibt es gesellschaftliche Zwänge, meint er. Ich kämpfe täglich mit ihnen. Der Arbeitsdruck nagt an mir. Und auch hier bringen die Berge, bringt die Natur Freiheit. Aber vergleichbar ist es nicht. Sowohl der Druck wie auch die Freiheit der Berge sind sehr viel individueller. Die Berge bringen die Menschen hier nicht zusammen. Ich bin mehr als 10 Jahre mit dem SAC, dem Schweizer Alpenclub, auf Touren mitgegangen und habe dies so erfahren. Kleine Gespräche, aber nicht mehr. Doch da auch der Druck des Alltags anders ist, braucht es vielleicht genau diese stille Freiheit der Berge.

Langsam klettert der Jeep die vielen Kehren zum Basislager hinauf. Dieses besteht aus einem langgezogenen Steinbau, aus dem Jahre später zwei Betontürme herauswachsen und ein Minarett bilden sollten. Noch aber ist die Revolution nur wenige Jahre her und einzig die amerikanischen Baracken mit dem grossen, sandigen Platz dahinter unterbrechen den Fluss des Berghangs. In jeder Kehre wirft das Geländefährzeug einen Lichtkegel in die Nacht. Der junge Mann singt noch immer in die ruhige Nacht und übertönt mit seiner Stimme den Motorenlärm. Dennoch kommt das Fahrzeug dem Basislager mit jeder Kehre ein Stück näher.

Damals sah das Regime, dass die Leute in die Berge zogen. Während sie das Leben in der Stadt im Griff hatten, konnten sie die Berge nur schwer kontrollieren. Das war wenige Jahre nach der Revolution, und noch war das Regime jung und unerfahren. Doch sie lernten schnell dazu, und so musste man sich ab den frühen 80er Jahren registrieren. Nur wer eine Bergsteigerkarte besass, durfte die Strassensperren passieren. Besonders intensiv wurden die Kontrollen mit dem Ausbruch des Iran-Irak-Krieges 1982. Das Regime gewann an Macht, und jede Kritik an dieser Macht wurde als Verrat an der Landesverteidigung dargestellt.

In grossen Lederstiefeln steigen die Basidsch, wie die Revolutionsgarden genannt wurden, aus ihrem Geländewagen und gehen über den sandigen Platz. Der Sänger ist inzwischen verstummt. Dennoch gehen sie geradewegs auf sein Zelt zu. Eine unsichtbare Hand scheint auf ihn zu zeigen. Der Zeigefinger schreckt allerdings davor zurück, unter die weiten Röcke der Frauen zu weisen, und so liegen die Instrumente dort vor den Blicken der Stiefelmänner geschützt in Stoff gewickelt. Unberührt liegen sie auch noch dort, als die roten Lichter des Geländewagens, nachdem sie ihn in dessen Inneres gezerrt haben, bereits weit unten im Tal hinter einer Kehre verschwinden, wo das Schicksal des unbekannten Sängers seinen Lauf nehmen wird.

Im Iran der 80er und 90er Jahre war Bergsteigen eine Charaktereigenschaft. Wenn einer im Taxi oder sonstwo sagte, dass er in die Berge geht, gehörte er automatisch zu einer bestimmten Kategorie Mensch. Das hiess, dass man auch bis zu einem gewissen Grad mit ihm sprechen konnte, ohne Angst zu haben. Ein grosser Teil des Kennenlernens war damit bereits übersprungen.

Es ist vier Uhr früh. Hunderte Gestalten wanken mit Stirnlampen in der Dämmerung umher. Jeder verrichtet still sein Aufstehritual. Die Luft hat eine ergreifende Frische. Während die letzten noch aufstehen, bildet sich am Berg eine immer länger werdende Lichterkette, die sich wie ein erkaltetes Reptil langsam die Steigung hinaufwindet. Der Tag übernimmt die Nacht und das Reptil fällt auseinander. Überall bilden sich kleine Gruppen, die sich langsam den gleichmässig steigenden Hang hinaufbewegen. Aras geht in einer der Gruppen und versucht vorsichtig, die festen von den losen Gesteinsbrocken zu unterscheiden. Steine aus erkalteter Lava überziehen den Berg und die Schritte finden erst wieder zur alten Gleichmässigkeit zurück, als sie auf die mächtige Eisdecke des Gipfelgletschers stossen.

Es war auch ein Ziel von uns, dass Bergsport nicht nur als Sport gesehen wurde, sondern zu einer Aktivität wurde, die Menschen zusammen bringt. In der Stadt konntest du dich nicht mit ein paar Menschen irgendwo hinsetzen und über das sprechen, was dir auf der Seele lag. In der Natur, in den Bergen schon. Damals war es auch unser Ziel, mehr Menschen, vor allem auch mehr Frauen, in die Berge zu bringen. Ich bin froh, dass es zumindest teilweise gelungen ist. Ich war selbstverständlich nur einer von vielen. Aber das Gefühl, etwas gemacht zu haben, habe ich noch immer in mir. Wenn ich jetzt im Internet Bilder und Videos von Freunden schaue, sehe ich, dass es weiterlebt. Damals konnten wir fast keine Frauen in den Bergen sehen. Jetzt sind die Berge voll von Frauen. Mehr als Männer. Da haben wir doch etwas erreicht.

Und auch heute ist Bergsteigen ein Mittel gegen die staatliche Ordnung. Es geht darum, sich frei bewegen zu können. Hand in Hand mit seiner Geliebten gehen zu können. Es geht darum, ein ganz normales Leben zu führen, und viel weniger um ideologische Parolen.

Mich interessiert einfach das normale menschliche Leben. Das war mein Aktivismus. Ich wollte dieses Leben selbst erfahren und anderen zugänglich machen. Damals konnten wir sehr einfach mit einer selbst gebastelten Antenne die Fernsehsendungen von Baku empfangen. Das hatte einen grossen Einfluss in unserem Gebiet. Sie zeigten Musik, Tanz und ein freies Leben ohne Kopftuch. Wenn du in einem Beispiel siehst, dass sie Menschen sind wie wir, aber sie in Freiheit leben und wir nicht, löst das etwas aus. Müssen sich, fragten wir uns damals, unsere Schwestern, Mütter und Frauen so menschenunwürdig verschleiern, nur weil dies ein paar Herren aus der Regierung so wollen?

Nur noch wenige Meter trennen Aras vom Gipfel. Oben ist ein singender Bergsteiger zu hören. Er besingt den Kratersee, der nur wenige Wochen im Jahr eisfrei ist und tiefblau das einfallende Licht zurückwirft. Es scheint unmöglich diese Oberfläche zu durchdringen, auf der noch immer tonnenschwere Eisbrocken ruhen. Der Eintritt in die Kratermulde markiert die Grenze zu einer abgeschlossenen Welt. Hoch oben auf 4811 Meter über Meer beschränkt sich diese auf wenige hundert Meter in jede Richtung. Der Gesang des Bergsteigers verteilt sich im Krater und steigt den sanften Hängen entlang nach oben. Jeder Klang verschwindet in der Unendlichkeit und verlässt diese abgeschlossene Welt, ohne je eine andere erreicht zu haben. Mit einem langgezogenen Klagelaut beendet der Sänger sein Lied.

Wenn du mit anderen Menschen in den Bergen unterwegs bist, bringt dich die saubere Luft und die Stimmung zu Gesprächen. Du musst sprechen. Über alles, was dir auf dem Herzen liegt und mit jedem, den du magst. Du gehst mehrere Stunden mit jemandem und sprichst über Freiheit, über Musik oder über die Natur. Und obwohl nur wenige Frauen in den Bergen waren, war es dennoch der einzige Ort, an dem auch Gespräche mit Mädchen möglich waren. Ich war damals sehr jung, knapp 20 Jahre, und mit Mädchen sprechen zu können, war unglaublich schön. Nur ein paar Worte. Das Leben in der Stadt war damals komplett geschlechtergetrennt. Neben einem Mädchen zu gehen und mit ihr zu sprechen, das waren Momente des vollkommenen Glücks.

Es ist kurz vor elf. Der Aufenthalt in der Welt des Kraters dauert nur kurz, und wie am Morgen, nur in umgekehrter Richtung, bewegen sich hunderte Punkte über die weisse Weite und tauchen in die karge Steinwüste des erloschenen Vulkans ein. Sie kommen sich näher, und wie in einem Trichter sammeln sich die losen Bestandteile dieser Besteigung im Basislager. In spitzen Kehren führt der Weg weiter ins Tal, und plötzlich treten Düfte in die Nase. Zuerst sind die wenigen Kräuter kaum zu sehen, doch schon bald überziehen sie den Boden mit einer hauchdünnen, jedoch kräftigen Decke. Einzelne Grashalme ragen wie Antennen daraus hervor, und schon bald ist sie unter den vielen Gräsern nicht mehr zu erkennen. Noch ist der Schnee nicht lange geschmolzen. Im Grün ist das Labyrinth aus Gräben zu sehen, das die Mäuse im Winter zwischen Schnee und Erde gegraben haben. Sie legen ein Gangsystem zwischen die Schichten, in dem sie sich geschützt vor den Blicken ihrer Fressfeinde bewegen und so trotz der eisigen Schneedecke ihr gewohntes Leben führen können. Nun ist der Schnee geschmolzen und die Gänge liegen offen. Eine Legende der hiesigen Nomaden besagt, dass, wenn der letzte Schnee am Savalan geschmolzen sei, die Welt zu Ende gehe.

Grenzgebiet Iran-Türkei. 2000. Geh nun, sagte der Bruder zu Aras. Dort ist die Grenze. Dort ist die Türkei. Die beiden Brüder verabschieden sich kurz und Aras verlässt den Iran. Das war 14 Jahre nach der oben erzählten Geschichte. Nun ist auch Aras zu einem Schäflein geworden, dessen Verbrechen darin bestand, leben zu wollen. In Freiheit leben zu wollen und auch anderen diese Freiheit zugänglich zu machen. Nach einer Odyssee über Istanbul und die berühmteste Flüchtlingsroute der späten 90er Jahre durch Bosnien überschritt er schliesslich an einem Morgen bei Kreuzlingen die Grenze in die Schweiz. Die Luft war kühl und über dem Bodensee lag ein dichter Nebel.

Mit einem festen Händedruck verabschiede ich mich vom Aras. Ich bedanke mich für den Abend und auch er bedankt sich: Es ist lange her, seit ich das letzte Mal in dieser Zeit gewesen bin. Es ist wichtig, von Zeit zu Zeit dorthin zurück zu kehren. Ich steige in den letzten Zug, der mich um 23.54 von Zürich Altstetten nach Basel bringt. Noch immer habe ich den melancholischen Klang der Tar in den Ohren. Ein paar Tage später habe ich ihn mir auf einem Gipfel in den Walliser Alpen angehört. Seltsam fremd klingt die Melodie hier. Nachzuhören unter http://youtube/GeAVQUCB7_Q.