Bei den blauen Indianern
Die Sonne war aussätzig. Schweißtropfen liefen uns am Körper entlang, lösten sich, lagen auf dem Magen, dick, lau, langsam, dick wie Eier, lau wie Eier vor dem Schlupf, langsam wie Fieber im Anzug. Wir stopften uns mit Chinin voll. Litten an Übelkeit. Die Ruder schmolzen in der Hitze. Unsere Kleider bedeckten sich mit Schimmel. Es regnete dauernd. […] Wie Fiebernde, die sich in ihrem Bett wälzen, näherten wir uns den Gestaden, um ein wenig Luft zu schöpfen. Welch ein Albdruck! Und in neun Fällen von zehn öffnete sich das Gehölz, um einem Stamm grimmer Indianer den Weg frei zu geben. Sie waren stark, hochgewachsen, mit wehendem Haar, die Nasenflügel von scharfen Ringen durchbohrt, ihre Ohrlappen wurden von schweren, runden Elfenbeinplatten heruntergezogen, die Unterlippe war mit Haken und Krallen geschmückt oder mit Dornen besetzt. Sie trugen Bogen und Blasrohre bei sich und entluden sie in unsere Richtung. Da sie als Menschenfresser gelten, fuhren wir wieder in die Mitte des Flusses zurück, nahmen unseren Traum verfluchter Seelen wieder auf. Große blaue Schmetterlinge, Pamploneras genannt, setzten sich auf unsere Hand und bewegten die Luft mit ihren feuchten, ausgebreiteten Flügeln. […]
Die Blauen Indianer verbreiten einen merkwürdigen Geruch, denn sie sind alle krank. Man nennt diese Krankheit »carate«. Es ist eine Hautkrankheit, syphilitischen Ursprungs. Sie ist immer erblich und sehr ansteckend. Sie besteht in einer Entfärbung des natürlichen Pigments, in einer subkutanen, bunten Aderung, durch die der marmorierte Körper »geographisch« gefleckt wird, meistens bläulich auf fahlem Untergrund. Die Färbung variiert, und es gibt mehrere Arten von »carate«. Die Marmorierungen sind oft entzündet und eitrig. Die Behandlung mit Hilfe von Quecksilberverbindungen dürfte sehr einfach sein. Die Indianer kümmern sich nicht darum, sie kratzen sich.
Die Blauen Indianer, deren Gefangene wir waren, gehörten zum alten Stamm der Jívaro. […] Da diese Indianer keine Flöten und Blasrohre haben, macht sich ihr Drang zu pfeifen, der allen südamerikanischen Naturen eigen zu sein scheint, auf eine merkwürdige Weise bemerkbar. Sie verfertigen poröse Krüge aus zwei Teilen. Diese Behälter stellen die ganze örtliche Fauna, im besonderen die Vögel dar. Man füllt die beiden Teile mit einer bestimmten Wassermenge. Seitlich des Kruges ist eine Öffnung, die man zum Munde führt, und wenn man hineinbläst, ertönt ein Schrei, nämlich der des Tieres oder Vogels, der auf dem Okarinakrug dargestellt ist. Diese Krüge gibt es in allen Größen, von der Pfeife bis zur Urne, die Töne, die herauskommen, haben also jedes Timbre und jedes Volumen. Jeder Indianer hat seinen »gaguera« und hundert Mal am Tag stößt er den Schrei seines Totem aus. Vereinigt ergeben all diese die prächtigste Kakophonie. Ein solches Konzert hatte uns am Abend unserer Ankunft begrüßt.
Die Jívaro-Indianer üben noch eine andere merkwürdige Kunst aus, die sogar das Skalpieren der Rothäute in den Schatten stellt. Sie behalten den Kopf, sogar den ganzen Körper ihrer Feinde konserviert bei sich. […] Ihre plastische Gestaltung ist so genau, daß die Mumiengesichter ihren natürlichen Ausdruck behalten. Ich habe dieser haarsträubenden Operation beigewohnt, als sie sich die sterblichen Reste unseres Freundes Lathuille vornahmen. Er ist heute im Trocadero-Museum eines der schönsten Exemplare der »tsantsa«-Sammlung.
Blaise Cendrars: Bei den blauen Indianern. In: Moravagine. Berlin 2014
Zum Projekt:
Holy Shit – Katalog einer verschollenen Ausstellung erschien im Oktober 2016 im diaphanes-Verlag. Erzählt wird die semifiktionale Geschichte einer Ausstellung, die zweimal scheiterte: 1929 als das gemeinsame Ausstellungsprojekt der Zeitschrift Documents und der Bibliothek Warburg, 2016 als der Versuch einer Rekonstruktion durch die Kuratorin Svenia Steinbeck. Erzählt wird auch, in Essays und vielen ‚Exponaten‘, eine Geschichte des Primitivismus in der Kultur- und Diskursgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Editorisch verantwortet wird die Publikation von Basil Rogger, Stefan Zweifel, Michel Mettler, Peter Weber, Ruedi Widmer; gestalterisch von Mihaly Varga und Corinne Gisel; erarbeitet wurde sie von und mit Martina Felber, Sophie Grossmann, Angela Meier, Nina Laky, Lora Sommer, Dominique Raemy, Philipp Spillmann, Kate Whitebread und einer Anzahl weiterer Studierenden des Master Kulturpublizistik der ZHdK.
Spezialausgabe
Holy Shit
1887 geboren als Frédéric-Louis Sauser in La-Chaux-Fonds, 1961 gestorben in Paris: Blaise Cendrars war Schriftsteller und Abenteurer. Als Fremdenlegionär im 1. WK verlor er seinen rechten Arm. Berühmt wurde u.a. sein Roman «Gold» (1925) – eine Auswanderergeschichte über einen Schweizer im Goldrausch in Kalifornien.