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Der Balken in meinem Auge

Battlefields of Cupiditas. Interview mit Nina Staehli

EVA VÖGTLI: In deinem Werkzyklus «Glory Land» geht es um die Vertreibung der Native Americans und den «Trail of Tears», ihre zurückgelegte Fluchtstrecke, die geprägt war von Hunger, Leid und Tod. Verstehst du dich in einem solchen Werkzyklus als politische Künstlerin?

NINA STAEHLI: In meinem Werk geht es um Migration, gerade in «Glory Land». Ich kann von Erlebnissen und Gesprächen erzählen, die ich mit betroffenen Menschen im Mittleren Westen und den Südstaaten hatte. Aber ich tue das aus der Sicht von jemandem, der ausserhalb des Systems steht und mit einer freien, künstlerischen Perspektive an die Thematik herantritt.

Wie gehst du bei deinen Beobachtungen vor?

Ich komme vom Theater her, kann mich in Charaktere hineinversetzen und sehe ihre Vielschichtigkeit. Ich arbeitete bisher mit unterschiedlichsten Menschen zusammen – von heroinsüchtigen Menschen über Vorstandsmitglieder von Banken und Firmen zu arbeitslosen Jugendlichen sowie Kindern und Behinderten. Dieser riesige Fächer des Menschseins fasziniert mich. Es gibt in diesem System Verlierer*innen und Gewinner*innen. Ich besitze einen grossen Gerechtigkeitssinn und weiss gleichzeitig, dass es diese Gerechtigkeit nicht gibt. Die Ungerechtigkeit gegenüber den Schwachen, den Ausgenutzten, stachelt meine Wut an.

Du bist wütend und möchtest der Gesellschaft den Spiegel vorhalten?

Ich finde es gut, Wut zu verspüren. Sie wird zum Katalysator, ich kann aus ihr schöpfen, um eine neue, poetische Welt zu schaffen. Das ist kein direkter Spiegel, ich bilde die Welt nicht plakativ ab. Meine Arbeit ist von einer humorvollen Geste durchdrungen. Ich schaffe einen Kosmos aus verschiedenen Informationen und gebe dadurch andere und neue Sichtweisen. Es gibt im aktuellen Werkzyklus «Battlefields of Cupiditas» keine Message wie: «Pass auf, was du tust!»

Aber es geht um Gier. Gieriges Verhalten bei anderen aufzuzeigen, scheint leichter zu sein, als bei sich selbst. Bist du ein gieriger Mensch?

Natürlich bin ich auch Betrachterin meiner eigenen Unzulänglichkeiten. Man könnte sagen, ich sei gierig danach, Eindrücke zu verarbeiten und zu materialisieren. Ich reflektiere meine Gelüste, meine Sinneslüste, meine Gier im Positiven wie im Negativen – Gier hat auch schöne Seiten und ist unter anderem ein Überlebenstrieb. Ich gerate beim Arbeiten oft in einen geistigen Rausch und kann nicht mehr aufhören. Auf der Materie sitzen zu bleiben finde ich wiederum belastend. Ich brauche nicht viel Materielles zum Leben. Mein Luxus ist die Freiheit.

Gier könnte man als Angst vor der eigenen Vergänglichkeit deuten. Durch das Anhäufen von Gütern hast du etwas, was du an die Nachwelt weitergeben kannst. Auch Kunst ist so ein Gut.

Für mich hat Kunst mehr mit Sinnhaftigkeit und mit bedingungsloser Notwendigkeit zu tun. Meine zwanzig «Big Heads» landen nach meinem Tod vermutlich in einem Container. So wichtig ist die*der Einzelne vielleicht gar nicht. Die Natur wird weiterleben, aber was ist schon der Mensch? Wenn man so will, ist er eine kleine, vergängliche Spezies.

In «Battlefields of Cupiditas» stellst du die Behauptung auf, jeder Mensch besitze ein Gierorgan. Dieses untersuchst du in seinen Ursprüngen. Ich würde die grossen, aufgeblasenen Gierorgane so lesen, dass sie kurz vor dem Platzen stehen und aufzeigen, dass unbegrenztes Wachstum nicht möglich ist.

In den aufgeblasenen Objekten ist die Hypertrophie dargestellt. In der Medizin bedeutet Hypertrophie, dass etwas immer grösser und grösser anwächst, solange der Stimulus, die verantwortliche Zelle, nicht gefunden wird. Wenn man den Stimulus in Machtsystemen finden würde, könnte man diesen vielleicht umformatieren.

Für die Buchvernissage der Publikation zu «Battlefields of Cupiditas» am 28. April sind Personen aus dem Bankwesen, der Suchtpsychiatrie und der Philosophie zur Podiumsdiskussion in Zofingen eingeladen. Wenn du dich mit der Zuschreibung von Rollen im System beschäftigst, interessieren dich dann auch die Berufsbilder als Stereotypen?

Der Banker, wie der Papst oder der Künstler, gerät immer wieder unter Beschuss. Banker halten oft als Sündenböcke hin für aufgelöste ethisch-moralische Werte. Meiner Meinung nach ist das Wertesystem der Gesellschaft zusammengebrochen. Dieses Werteverständnis hängt von Sozialisierung und Erziehung ab, also davon, wie Respekt und Humanität im privaten oder im Arbeitsumfeld vermittelt werden.

Wo findest du Inspiration, ausser in deiner Wut?

Ich habe zum Beispiel damit begonnen, morgens beim Kaffee Poesie zu lesen. Dadurch beginne ich den Alltag anders. Ich lese morgens keine Nachrichten. Inspiriert hat mich zum Beispiel die Erzählung «Wieviel Erde braucht der Mensch» von Tolstoi. Mit der Thematik der Gier spielt auch Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» oder das Werk des Marquis de Sade. Das Thema des Überbordens von sexuellen, erotischen, obszönen Trieben bis zur Selbstauflösung ist sehr spannend. Ich las Berichte vom Jugoslawienkrieg, von einem Journalisten, der über die Lust schrieb – wie weit Menschen vor Kriegsausbruch Grenzen überschritten, Tabus gebrochen und sich der körperlichen Ekstase hingegeben haben. Denn als der Krieg ausbrach, gab es nur noch drei Möglichkeiten vom Dasein: Opfer, Täter und die Toten. Ein israelsicherer Freund erklärte mir, ihm komme das Leben manchmal unberechenbar vor. Du weisst nie, ob es dich morgen noch gibt. Kriegsberichte von gequälten Menschen – was sind das für Triebe, die in Kriegsmomenten so stark werden? Macht, gepaart mit Trieb, das wird richtig eklig. Dazu wären wir nicht fähig, denken wir.

Der Begriff der Freiheit ist in «Glory Land» zentral. Hier spielen Herrschaftsansprüche eine grosse Rolle. Unterscheiden wir so stark zwischen «uns» und «den Anderen», um Vormachtstellungen zu definieren?

Diesen Aspekt habe ich in «Glory Land» stark erlebt. Während meiner Recherche in den Südstaaten führte ich ein Interview mit dem Verwaltungsratspräsidenten der Casinos, die von Natives geführt werden. Als Weisse*r hättest du keine Chance, dort zu arbeiten. Wir sind es nicht gewohnt, ausgeschlossen zu werden. Die Weissen werden an den Spielautomaten süchtig und verprassen ihr Geld. Es ist eine Umkehrung der Ausbeutung. Durch das Geld finanzieren die Cherokee ihre Universitäten und Ausbildungsstätten. In Charleston, South Carolina, der früheren Hochburg der Sklaverei, habe ich mit meinem Film für «Glory Land» begonnen. Dass ich selbst zu dieser Rasse zähle, die ausbeutet, war dabei nicht unwesentlich. In Kansas City traf ich eine Museumsdirektorin, die über die heutigen Stämme und ihre Lebensweisen eine umfassende Ausstellung machte. Unter anderem wurde gezeigt, wie der amerikanische Film, Hollywood, ein komplett verzerrtes und falsches Bild der Natives vermittelt. Als Beispiel kann man auch Karl May nennen und seine extremen Verzerrungen von Wirklichkeiten, die unser Bild von den Natives bis heute prägen.

Zuerst wurden die Natives als «unzivilisiert» bezeichnet und vertrieben, um sie in einer Gegenbewegung als «unverdorben» darzustellen, in Filmen und Büchern. Mit Winnetou als Archetypen.

Genau, und schlussendlich wurden sie glorifiziert. Ich war für ein Interview bei Chadwick «Corntassel» Smith zu Hause, der früher Präsident der Cherokee war und vor den Wiederwahlen stand. Smith war Präsident, ist Anwalt, gebildet. Trotzdem werden die Natives bis heute in den USA diskriminiert.

Die «Big Heads» sind charakteristische Kopfskulpturen, die auch in deinen Filmen vorkommen und die du in deinen Performances trägst. Bedeutet das Tragen des Big Heads «Tearhead» im Werk «Glory Land» eine Solidarisierung mit den Vertriebenen? Oder siehst du dich eher in der Täterrolle, als Weisse, die aus einer privilegierten Gesellschaftsschicht stammt?

Diese vor Ort erlebte Ungerechtigkeit hat mich emotional stark getroffen. Ich fühlte mich schlecht als Europäerin. Vielleicht auch, weil den Natives die Freiheit alles bedeutet. Darin erkenne ich mich selbst wieder. Die Natives sind extrem verbunden mit der Erde, mit ihren Ritualen und ihrer Kultur. Ihnen genau diese Verbundenheit wegzunehmen, finde ich grausam. Und ich bin eben auch ein Mensch, der zu seiner Umgebung eine Verbindung und Beziehung aufbaut. Noch heute wird aus der Vertreibung Profit gezogen. Wenn Museen wie das Woolaroc die Geschichte der Natives behandeln, indem sie Schrumpfköpfe präsentieren, finde ich das pervers. Nach der Vertreibung folgt das Ausstellen der Kultur der Natives in Museen. Dieses System der Wiedergutmachung ist sehr zwiespältig. Für die Interviews mit den Cherokee und Choctaw Tribes hatte ich einen Fragenkatalog erstellt. Die letzte Frage war, wie das «Gierorgan», wenn es das gibt, aussieht, welche Farbe es hat, wo es sich befindet. Einer von ihnen fand, das Gierorgan liege in der Nähe des Herzens, jemand anderes sah das Gierorgan eher als ein Riesengeschwür im Kopf.

Nina Staehli ist freischaffende Künstlerin in Berlin und Luzern. Ihr aktuelles Werk «Battlefields of Cupiditas» ist eine narrative Gesamtinstallation aus pneumatischen Objekten, Skulpturen, Video, Performance, Malerei und Texten. Sie untersucht darin das «Gierorgan» aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Einzelausstellung dazu findet vom 2. März bis 16. Juni 2019 im Kunsthaus Zofingen statt.

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und  Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Nina Staehli wurde von Eva Vögtli am 27. Februar in Luzern geführt.