Bahnhofsprosa
Ich fuhr hinunter, einem blauen Licht entgegen, das ich als Leuchtschrift erkannte, als ich unten angekommen war: »Museum der Öffentlichkeit« stand über dem Portal, es waren gebogene Neonröhren, teils waren sie leckgeschlagen, teils hingen sie schief und flackerten. Ich betrat eine große, leere, ausgekachelte Halle, Reste des Geflackers spuckten herüber, fanden an den Wänden Widerhall, wurden zu Seufzern, die auf Ohrhöhe weiterseufzten. Als sich die Augen an diese Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich ein lupendickes Sicherheitsglas vor ultraviolettem Wasser. Drin schwebte eine Königsqualle. Ich stand nahe am Glas, verfolgte die Flug- oder Schwebebewegungen dieses Wesens, das mich wahrzunehmen schien, es warb pulsierend um meine Aufmerksamkeit, quoll auf, sog mich an, blies mich auf, ließ mich sinken, um wieder zu steigen. Ich beschloß, in meiner schriftlichen Arbeit auch diese Qualle zu erwähnen. Sie ist das schönstvorstellbare Wesen, ihre Wimpern aber sind so giftig, daß bereits längeres Hinschauen tötet. Auf einer Insel in der Südsee, las ich, gab es den Brauch des Quallens, mit dem verhindert werden konnte, daß die Häuptlinge zuviel Macht erhielten. Wer Oberhaupt werden wollte, mußte eine Königsqualle einfangen und einige Stunden lang auf dem Kopf tragen. Die meisten Anwärter waren auf der Stelle tot, sobald sie die Qualle berührten, im Umkreis mehrerer Kilometer verendeten alle Lebewesen, wenn sie eine Bucht heimsuchte. Wer dies durchstand, wurde Machthaber, war aber vollständig verblödet, mußte wie ein Haustier gefüttert werden.
Peter Weber: Bahnhofsprosa. Frankfurt a.M. 2002, S. 75f.
Zum Projekt:
Holy Shit – Katalog einer verschollenen Ausstellung erschien im Oktober 2016 im diaphanes-Verlag. Erzählt wird die semifiktionale Geschichte einer Ausstellung, die zweimal scheiterte: 1929 als das gemeinsame Ausstellungsprojekt der Zeitschrift Documents und der Bibliothek Warburg, 2016 als der Versuch einer Rekonstruktion durch die Kuratorin Svenia Steinbeck. Erzählt wird auch, in Essays und vielen ‚Exponaten‘, eine Geschichte des Primitivismus in der Kultur- und Diskursgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Editorisch verantwortet wird die Publikation von Basil Rogger, Stefan Zweifel, Michel Mettler, Peter Weber, Ruedi Widmer; gestalterisch von Mihaly Varga und Corinne Gisel; erarbeitet wurde sie von und mit Martina Felber, Sophie Grossmann, Angela Meier, Nina Laky, Lora Sommer, Dominique Raemy, Philipp Spillmann, Kate Whitebread und einer Anzahl weiterer Studierenden des Master Kulturpublizistik der ZHdK.
Spezialausgabe
Holy Shit
Peter Weber, *1968, ist Schriftsteller und lebt in Zürich. Er ist als Mentor, Themen-Spender und Kuratoriumsmitglied an Zollfreilager beteiligt.