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Tanja Spielmann

Authentisch am Strand liegen

Den ersten Teil dieses Beitrags schreibe ich, während ich mit übergrossem Strohhut, pastellfarbenem Bikini und Rhabarberschorle auf einem beigen Strandtuch auf beigem Sand in der Werft sitze. Sieben Scheinwerfer werfen ihr Licht auf mich und ungefähr 40 Augenpaare ihre Blicke – genauer kann ich es nicht sagen, weil sich das Zählen der Zuschauer*innen gerade wie ein Verrat an meiner Aufgabe anfühlt.

Ich habe mich als Statistin für die Oper «Sun & Sea» der litauischen Künstlerinnen Rugile Barzdaziukaite, Vaiva Grainyte und Lina Lapelyte gemeldet, die im Rahmen des Theaterspektakels gezeigt wird. Die einzige Anforderung an mich: ein pastellfarbener Bikini und Zeit. Die 60-minütige Oper spielt fünfmal pro Abend – geloopt. Heute, am 19. August 2020 von 17 bis 22 Uhr. Ich finde mich also um 16 Uhr im Statist*innen Eingang ein, vorerst noch ziemlich alleine. Mein Bikini wird kurz gesichtet, ausserdem bekomme ich ein Handtuch, Flip-Flops und einen riesigen Hut ausgehändigt. Ich könne jederzeit raus, schwimmen im See, auf die Toilette gehen oder Getränke und Snacks holen, die ich auch gerne zurück an den Strand bringen dürfe. Ansonsten lesen, Badminton spielen, schlafen, aber auch Handy, Kopfhörer und Laptop dürfen benutzt werden. Nur nicht flüstern – wenn reden, dann in normaler Lautstärke. Ich soll einfach das machen, was ich auch sonst am Strand machen würde.

So schlendere ich um 17 Uhr zu meinem Strandplatz, den ich mir vorher bereits zurechtgelegt hatte. Ein Tuch, eine Strandtasche mit Notizbuch und Lesematerial sowie Handy und Wasserflasche und unordentlich drapierte Flip-Flops liegen bereit. Rechts und links wird gesungen, während man sich mit vermeintlicher Sonnencreme einschmiert, am Strand spaziert oder sich, im kleinen Schminkspiegel betrachtend, die Lippen nachzieht. Ich versuche zu lesen. Während ich also, auf meinem Bauch liegend, das Buch aufschlage, frage ich mich, wie ich wohl von oben aussehe, wenn ich lese. Ich spüre meine Beine, die sich bei den Knien berühren und die Füsse, die sich leicht in den Sand graben. Und plötzlich fühlt sich keine Haltung mehr natürlich an. Ich drehe mich auf die Seite. Was mache ich normalerweise mit meinem Armen? Wie halte ich das Buch? Schaut der Zettel der Badehose raus? Wirke ich zu gestellt? Ein Freund ruft mich an und ich schreibe: «Versuche gerade authentisch am Strand zu liegen, rufe später zurück.»

Eine Sängerin fragt mich, ob ich ihre Arie filmen könne und meine Sprechstimme schwankt zwischen verschiedenen Lautstärken, die sich alle falsch anfühlen. Ich fühle mich ein bisschen wie vor einem ersten Date, wenn ich zehn Minuten früher vor Ort bin und minutenlang überlege, wie und wo ich stehen, was ich machen und wie ich agieren soll, um möglichst entspannt und trotzdem lässig auszusehen. Mit der Zeit gibt es Momente, in denen ich mich in meinem Buch verliere, mich der Musik hingebe oder später im Gespräch mit einem Kommilitonen, der sich plötzlich neben mich aufs Strandtuch setzt, vergesse, dass ich gerade Teil einer Aufführung bin. Aber es gibt auch Momente, in denen ich aufschrecke und mich ertappt fühle. Auf einer Bühne authentisch «Ich» zu sein, ist gar nicht so eine einfache Rolle.

Die fünf Stunden sind schnell um, das Ende abrupt. Ich ziehe mich um, packe meine Sachen und gehe raus. Auf dem Weg zur Bushaltestelle werde ich von einem Zuschauer in ein Gespräch verwickelt. Er erzählt mir von der Wirkung des Settings, in dem einerseits Darsteller*innen scheinbar entspannt eigenen Interessen nachgehen und andererseits ein Libretto über Naturkatastrophen, Klimawandel und Untergang vortragen. Er beschreibt eine bedrückende, beinahe gefährliche Atmosphäre, die gerade durch die Schönheit der Musik und der Menschen am Strand verstärkt wird. Seine Worte begleiten mich in den Abend. Ich habe immer wieder Ausschnitte des Textes gehört, habe auch regelmässig der Musik gelauscht und die anderen Strandbesucher*innen beobachtet. Aber ich war auch extrem fest auf mich fokussiert. Ich nutzte die Zeit, um zu lesen, zu dösen, der Musik zu lauschen und Gespräche zu führen. Ich nahm mir an diesem Strand eine Auszeit, während links und rechts vom Weltuntergang gesungen wurde. Ich fragte mich, ob ich noch eine Schorle oder ein paar Snacks holen soll, während globale Dringlichkeiten verhandelt wurden.

Das transformative Moment kam für mich erst Stunden später, als ich den zweiten Teil des Beitrags verfasste. Es drängten sich folgende Fragen auf: «Wie oft bin ich mit meinen First-World-Problemen beschäftigt, während rechts und links viel existenziellere Themen dringlicher sind? Wo ist die Grenze zwischen Self-Care und Ignoranz? Wie viel Energie kann ich für die Dringlichkeiten unserer Zeit aufwenden und ab wann ist es legitim, mich davor zu schützen?» Es fühlt sich beängstigend an, wie ich fähig war, diese Themen von mir zu stossen, sie einfach nicht wahrzunehmen, sie nicht an mich heranzulassen. Aber ich wäre vielleicht auch nicht fähig, mich jetzt damit auseinanderzusetzen, hätte ich nicht ab und zu die Möglichkeit, mich zu distanzieren, abzuschalten und Sonne zu tanken.