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Damian Christinger

Aufwachen und mit dem Kopf an die Wand schlagen

Der Moment des Erwachens, das Ineinander-Umschlagen zweier Bewusstseinszustände, kann sanft oder plötzlich erfolgen. Der Untertitel von Tiziano Cruz (*1988, Argentinien) neuem Stück «Solilooquy (I woke up and hit my head against the wall)», verweist auf den Schock dieses Momentes. Er selbst beschreibt den Moment so:

2015 starb meine erst 18-jährige Schwester, die einzige Frau in meiner Familie, aufgrund medizinischer Fahrlässigkeit in einem öffentlichen Krankenhaus in der Provinz Jujuy im Norden Argentiniens, nachdem sie ihren Sohn geboren hatte, der jetzt meinen Namen trägt. Das Gefühl des Verlustes und der Enttäuschung ist etwas, das wir schon immer hatten, weil uns immer etwas genommen wurde. Dieses Mal wurde uns meine Schwester genommen, indem man sie sterben ließ. Nachdem ich meine Schwester in dem Dorf, in dem wir geboren wurden, beerdigt hatte, floh ich vor Traurigkeit, Müdigkeit, Armut und Gewalt. Ich hatte verstanden, dass ihr Tod kein Zufall war, sondern dass es bestimmte Faktoren gibt, die unsere Chancen zu sterben erhöhen. Wie die Zugehörigkeit zu indigenen Gemeinschaften, unsere Hautfarbe, dass wir arm sind, dass wir nicht richtig sprechen können und im speziellen Fall meiner Schwester, dass sie in einem so jungen Alter schwanger war. 

Der von Cruz geäusserte Satz «dass wir nicht richtig sprechen können» verweist auf die auch heute tiefgreifenden sozialen Spannungen innerhalb der argentinischen Gesellschaft, die sich vorwiegend als «europäisch» begreift. Soziolog:innen vermuten, dass der Anteil der indigenen Bevölkerung viel höher ist als die offiziellen 2,38%, die aus einer Befragung von 2004 hervorgingen.[1] Cruz spricht in diesem Zusammenhang auch von «innerer» oder «interner» Migration. Er meint damit sowohl die Landflucht, also die Bewegung von indigen geprägten ländlichen Gegenden hin zu den Städten, die sich als «weiss» definieren, als auch eine innere Bewegung des Individuums, das sich in der Stadt neu zu definieren versucht. Viele dieser internen indigenen Migrant:innen versuchen in der Stadt, ihre Sprache, ihre Kleidung und ihren Habitus anzupassen und sich so in die  Mehrheitsgesellschaft zu integrieren.

«Soliloqui», das Stück von Cruz, das am Theater Spektakel 2022 gezeigt wird, basiert auf 58 Briefen, die der Künstler 2020 an seine Mutter aus der Stadt nach Jujuy schrieb. Erinnerungen und Fragen an die Kindheit, halb Vergessenes und Verdrängtes kommen in einem Prozess des Erwachens an die Oberfläche und werden neu kontextualisiert, in seine Praxis der interdisziplinären Erkundung von Körper und perfomativer Kunst integriert. Was ist mit dem Körper passiert, der sich in der Migration verwandelt hat, verwandelt wurde, und wie situiert er sich in einer globalen Wirklichkeit? Die wenigen Requisiten, die Cruz verwendet, wie etwa die Caja, die Handtrommel, sind dabei «sprechende Dinge», die ihn mit einer verschwimmenden Erinnerung verbinden.

Ich erinnere mich, wie meine Mutter und ihre Geschwister, als ich noch Kind war, nach der Maisernte, wenn sie den neuen Mais auf den Stoppelfeldern meiner Großeltern gesät hatten, auf der Veranda des Hauses im Kreis tanzten. Dieses Fest wurde immer von den Cajas begleitet, und jetzt begleitet mich dieses Instrument, wie auch meine Rüstung, mein Kostüm aus Schafwolle, das mit traditionellen Pflanzen gefärbt wurde: Diese Verbindungen zeigen an, woher ich komme, jeder Schlag auf die Caja steht für die Gemeinschaften, die nicht mehr hier sind, ihr Klang ist die Stimme meiner Vorfahren, meiner Schwester, die sich von dieser Welt verabschiedet hat.

Wenn ich mich an den Ort meiner Herkunft zu erinnern versuche, dann sitze ich unter den blühenden Pfirsichbäumen meines Vaters, die das Haus meiner Kindheit umgaben. Aber das alles gibt es heute nicht mehr, es existiert nur noch in meinen Erinnerungen, die leider immer mehr verschwimmen.

Unsere Erde war immer großzügig, so dass sie Generationen von Gemeinschaften versorgt hat, aber sie wurde und wird weiterhin geplündert. Sie ist heute unwirtlich, und all das ist auf systematische Verstöße gegen das lokale Recht zurückzuführen, die oft durch das bestehende Machtsystem gefördert werden und sowohl auf regionaler als auch auf nationaler Ebene gewollt sind.

In Argentinien, vorwiegend in der Andenregion der Provinz Jujuy, befinden sich grosse Vorkommen von Lithium, das namentlich für Batterien Verwendung findet. In den 1990er-Jahren ermöglichten weitreichende Änderungen der argentinischen Bergbaugesetzgebung die Exploration, Erschließung und Nutzung von Bodenschätzen durch private Unternehmen. Somit wurde das Land zum einen für wirtschaftliche Globalisierungsprozesse geöffnet, in den globalen Handel eingebunden, zum anderen wurde die staatliche Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt. Heute sind alle Salaren (Salzseen) der Region mit Bergbaukonzessionen belegt. Die Provinzregierung in Jujuy verfolgt das Ziel einer Art «nationalen Vorreiterrolle» in Bezug auf eine erweiterte Lithium-Wertschöpfung. Sie bedient sich dabei einer globalen Sprache der Nachhaltigkeit, um die Projekte als öffentlich-private Joint Ventures mit US-amerikanischen, japanischen, chinesischen und italienischen Firmen zu rechtfertigen. Auf die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung und die entstehenden Umweltprobleme wird nicht eingegangen.[2]

Zur Lithium-Gewinnung aus Salaren gibt es immer wieder kritische Berichte in den Medien. Eines der Hauptprobleme ist entstehender Wassermangel, die Viehzucht gefährdet oder zum Vertrocknen von Bäumen führt. Der Abbau führt also dazu, dass sich die Menschen in der Region nicht mehr selbst ernähren können und abwandern.

Alles, wovon ich spreche, spielt sich in Argentinien ab, in Buenos Aires, dem Zentrum, der Hauptstadt, die die Lebensweise dieses Landes dominiert. Sie hat die Vorstellung, dass sie weiß sei. Es gibt ein dominantes Argentinien, das mit dieser Sehnsucht aufgebaut wurde. Sie wollen nicht schwarz oder braun sein. Diese Hautfarben werden mit den unteren Klassen, den Unterentwickelten, den Armen, vor denen sie Angst haben, assoziiert. Ich bin also ein Mensch, der in Argentinien geboren und aufgewachsen ist, aber es gibt immer Zweifel, ob ich Argentinier sei. Für viele bin ich es nicht und soll ich es auch nicht sein, denn ich bin ein großer, dunkler Fleck auf einem weißen Grund. Ehe also nicht nur mein Haus und meine Erinnerungen, sondern auch unsere Körper verschwinden, habe ich beschlossen zu sprechen, um Widerstand zu leisten, eine Stimme, ein Selbst, zu haben.

Die Erfahrungen, von den Cruz spricht, werden von indigenen Gemeinschaften überall in Lateinamerika gemacht. Tiziano Cruz ist mit seiner künstlerischen Arbeit Teil einer grösseren Bewegung, die für ein neues Selbstverständnis der indigenen Bevölkerungsgruppen einsteht und für ihre Rechte und Zugang zu politischen Entscheidungen zu kämpft. Aber nicht nur das, sie reagiert auch auf ein wachsendes Bedürfnis der Mehrheitsgesellschaft, ein neues Verhältnis zur Natur aufzubauen, dem Extraktionskapitalismus, wie er sich bei der Lithiumgewinnung beispielhaft zeigt, etwas entgegenzusetzen.  Aus diesem Grund hat er eine Produktionsgesellschaft ULMUS gestion Cultural gegründet, die in einem andinen Netzwerk künstlerisch auf ein gegenseitiges Lernen zwischen den indigenen und den urbanen Lebenswelten hinarbeitet.

Das voneinander Lernen ist immer von drei Dingen abhängig: Es gibt jemanden, der ein Wissen besitzt, es gibt jemanden, der dieses Wissen wünscht, und es gibt das Wissen. Die Beziehung zwischen diesen drei Parametern ändert sich ständig. Ein kritisches Selbstverhältnis beider Parteien ist wichtig, am Anfang steht aber die Stimme des Einzelnen, dann erst folgt das Gespräch. Wenn ich über eine mögliche Bedeutung von «Soliloquio» auf internationaler Ebene nachdenke, ist mir bewusst, dass es die Probleme der inneren Migration und des Verschwindens indigener Gemeinschaften bei weitem nicht nur in Argentinien gibt. In Europa spricht das Werk nicht nur von meinem Leben, sondern es wird zu einer von vielen Äusserungen vieler unsichtbarer Gemeinschaften in verschiedenen Gebieten.

«Soliloquy» erzählt von einem bestimmten Ort, von Jujuy in Argentinien, von der Nicht-Existenz dieses Ortes in den Köpfen der Menschen in der Hauptstadt. Gleichzeitig ist die Performance der Versuch, diesen Konflikt in grössere Zusammenhänge einzubetten, verschiedene Lebensformen und Weltwissen neu zu verhandeln. So wie das Lithium, das in Jujuy abgebaut wird, in unserem Alltag eine grosse Rolle spielt, so ist das Verhandeln verschiedener sozialer Rollen, der Herkunft und der Hautfarbe, längst Teil der Realität auch in Zürich. Das Bedürfnis nach einem anderen Umgang mit Wissen und Ressourcen ist auch bei uns allgegenwärtig. Das Problem dabei: Indigene Wissenssysteme sind an einen Ort gebunden, entstehen aus und mit ihm, sind tief in einer Lebensrealität verwurzelt, die durch unser globales Handeln zerstört wird. Das Lithium in der Batterie meines Mobiltelefones ermöglicht es mir, das Ticket an der Kasse zu zeigen um das Stück von Cruz zu sehen, die Genese von «Soliloquy» besser zu verstehen. Gleichzeitig ist es Teil der Dynamik, die das indigene Jujuy zum Verschwinden bringt. Aufzuwachen und mit dem Kopf an die Wand zu schlagen ist eine Erfahrung, die überall auf der Welt stattfinden und dadurch vielleicht etwas zu einem echten Gespräch beitragen kann.

Das Interview mit Tiziano Cruz wurde per Zoom und Email am 18./19. Juli geführt.

[1] Vgl. dazu: https://www.goethe.de/prj/zei/de/pos/22340689.html (aufgerufen am 2. August 2022)

[2] Vgl. dazu: https://lithiumwelten.com/fortschritt-jujuy/ (aufgerufen am 1. August 2022), oder https://dialogochino.net/en/extractive-industries/44943-in-the-name-of-lithium-documentary-shines-a-light-on-mining-and-conflicts-in-argentina/ (aufgerufen am 2. August 2022)

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