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Lucia Salomé Gränicher

Aufstehen und Singen oder Hinsetzen und Schweigen?

«Please Stand» ist die zweite gemeinsame Inszenierung der beiden australischen Regisseurinnen Samara Hersch und Lara Thoms. Es ist auch die zweite Arbeit, mit der sie am Theaterspektakel zu Gast sind. Während Samara Herschs künstlerische Praxis sich vom Theater her entwickelte, liegt der Ausgangspunkt von Lara Thoms in der bildenden Kunst und der zeitgenössischen Performance. Die Lust an der Zusammenarbeit mit Menschen jenseits des Kunstkontexts, an der Dekonstruktion von sozialen Hierarchien, an partizipativen Möglichkeiten und am Humor ist ihrer Praxis gemein und prägt ihre Kollaboration. In «Please Stand» laden die beiden junge Performenden Anfang zwanzig ein, sich der Sezierung von Nationalhymnen zu widmen. Die Produktion untersucht die Zweideutigkeiten jeder Zeile und jedes Tons. Was und wer wird wie repräsentiert und wen schliessen die Hymnen aus? Aus dieser Auseinandersetzung folgt die Revision und Neuverhandlung von Nationalitäten, Grenzen, Zugehörigkeit und Teilhabe.

LUCIA SALOMÉ GRÄNICHER: «Please Stand» versammelt junge Musiker:innen und Interpret:innen, um gegenwärtige Nationalhymnen zu untersuchen. Wie viele Nationalhymnen habt ihr bereits examiniert?

LARA THOMS: Meine Güte, wir haben sie nicht gezählt. Mindestens hundert.

Ihr seid gerade in der Vorbereitungsphase, richtig?

Ja, wir stellen gerade den Stücktext fertig und arbeiten ab nächster Woche mit den Performenden.

SAMARA HERSH:

Wir haben vier Darstellende, drei bei uns im Raum (Isha Menon, Lauren Sheree, Isaac Muller) und eine (Negar Rezvani), die aus den Vereinigten Staaten zugeschaltet wird.

Wie kommt es, dass eine Person aus den Vereinigten Staaten involviert ist?

Negar Rezvani war eine Flüchtende, die vor etwa acht oder neun Jahren aus dem Iran zu einer Zeit nach Australien kam, als sich gerade die Politik der Einwanderungshaft geändert hatte, und landete im Rahmen der neuen Grenzschutzpolitik der australischen Regierung in Nauru.* Einige Jahre später kam sie zurück nach Australien und war Teil eines Flüchtlingstauschs mit den Vereinigten Staaten. Momentan fehlen ihr die benötigten Papiere, um zu reisen. Negar hat ein sehr spezielles Verständnis für die verschiedenen Grenzbeschränkungen und was sie in ihrer Komplexität bedeuten können.

LARA THOMS: Ihre Erfahrungen sind Teil der Inspiration für dieses Projekt. Die verschiedenen Orte, an die sie reisen musste, deren unterschiedliche Grenzen und Gesetze und deren Verbindungen zu Hymnen ziehen sich durch das gesamte Werk.

Bedeutet Negars Teilnahme, dass ihr während der Aufführung mit Live-Übertragungen arbeiten werdet?

SAMARA HERSH: Negar ist Teil des Entwicklungs- und Schreibprozesses. Sie wird per Video ebenfalls Teil der Aufführungen sein, aufgrund der Zeitzonen sind Live-Übertragungen jedoch unwahrscheinlich. Die Frage nach Grenzen ist ein zentrales Thema in diesem Stück. Negars Unvermögen, Dass Negar nicht physisch im Theater anwesend sein kann, ist Teil dessen, worüber «Please Stand» sprechen möchte. Es gibt wortwörtlich Grenzen dafür, wie frei diese Welt für Menschen ist. Wir hoffen, während des Festivals ein anderes Format anbieten zu können, an welchem Negar live teilnehmen kann. Zum Beispiel einen Live-Dialog zwischen den Performenden und dem Publikum.

LARA THOMS: Auch wenn Negar während der Aufführungen wahrscheinlich nicht live übertragen werden kann, haben wir eine Live-Kamera und eine grosse Leinwand auf der Bühne. Die Darstellenden können somit Objekte einbringen und vergrössert auf die Leinwand projizieren. Auf der Bühne werden Kronen, Boote und andere Symbole, welche in Hymnen erwähnt werden, zu sehen sein. Wir spielen mit diesen Objekten und verwenden sie, um darzustellen, wie sich Hymnen im Laufe der Zeit verändern.

Welches Verständnis von nationalen Grenzen ist euch bei der Arbeit mit Negar und den anderen jungen Performenden begegnet?

SAMARA HERSH: Das ist kompliziert. Die meisten der Performenden, mit denen wir arbeiten, kommen aus verschiedenen Ländern und identifizieren sich mit verschiedenen Kulturen. Viele der Perspektiven, die sie einbringen, problematisieren die Frage, was eine einzelne nationale Identität überhaupt sein soll. Diese Perspektiven bringen eine komplexere Auseinandersetzung mit dem Gefühl der Zugehörigkeit mit sich. Sie zeigen die Unmöglichkeit, nur zu einer Sache, einem Volk oder einer Gruppe zu gehören. Außerdem sind zwei der Künstler:innen First Nation Australians, sie haben also wiederum eine ganz eigene Perspektive auf die Fiktion, die eine Geschichte ausmachen kann. Man betrachte beispielsweise die australische Hymne, welche die wahre Geschichte ihres Landes ausschließt. Wir untersuchen an den Hymnen vor allem ihre Art des Geschichtenerzählens. Von wem und zu welchem Zweck wurden sie geschrieben?

LARA THOMS: Die Geschichte der Grenzen ist auch eine Geschichte des Krieges, eine Geschichte des Kolonialismus und eine Geschichte der Nationen und des Patriotismus. Ja, wir können nicht die Geschichte der ganzen Welt erzählen, aber es ist interessant zu sehen, wann Hymnen geschrieben wurden und wann sie sich in Bezug auf Grenzen verändert haben.

Was wollen Nationalhymnen eurer Meinung nach sein, abgesehen von einem identifizierenden Symbol?

SAMARA HERSCH: Nun, ich denke, Hymnen tauchen in verschiedenen Kontexten auf. Im Kontext des Krieges geht es um die Bereitschaft, für sein Land zu sterben. Es ist für Menschen wichtig zu wissen, woher sie kommen, was sie verteidigen oder wofür sie kämpfen. Ähnlich verhält es sich in Sportarenen. Auch hier wird die Hymne zu einem wirksamen Mittel, um das Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln. Das sind vielleicht die beiden sichtbarsten Orte. Aber wir erforschen auch Anti-Hymnen, Protest-Hymnen, Hymnen, die als Reaktion auf traditionelle Hymnen geschrieben wurden. Wir untersuchen genauso, was es bedeutet, Worte zu finden, die einer normativen Erzählung etwas entgegensetzen. Ich glaube, das gemeinsame Singen hat einen großen Einfluss auf unsere Gefühle. Für uns als Künstlerinnen ist es interessant, die Form eines Liedes, eine Kunstform an sich, als ein Werkzeug zu betrachten, um eine Gruppe von Menschen zu mobilisieren, einen Affekt oder ein starkes Gefühl zu erzeugen. Es hat etwas mit dem physischen Akt des gemeinsamen Singens zu tun. Man kennt den Text, man kennt die Melodie, man erzeugt gemeinsam einen Klang.

LARA THOMS: Uns ist aufgefallen, dass viele Nationalhymnen von Schauspieler:innen oder Performer:innen geschrieben und ursprünglich in königlichen Theatern zelebriert wurden, was für uns als Theatermacherinnen eine interessante Überschneidung aufzeigt.

Schon in eurem letzten Stück «We All Know Whats Happening», mit welchem ihr beim Theaterspektakel 2019 eingeladen wart und das den ZKB Jury- und Publikumspreis gewonnen hat, habt ihr mit jungen Darstellenden gearbeitet. Was reizt euch an der Arbeit mit jungen Menschen?

SAMARA HERSCH: Wir finden junge Menschen unglaublich inspirierend; die Bewegung, der Aktivismus und das Aufbegehren gegen das, was in der Welt passiert. Sie sind zu jung, um zu wählen, aber sie nutzen ihre Stimme und ihren Körper als ein Instrument, um politische Statements zu setzen und Veränderungen anzustoßen. «We All Know Whats Happening» und «Please Stand» befassen sich beide mit verschiedenen Formen der Bildung und mit der Frage, wie Wissen weitergegeben wird. Sie tun dies jedoch in unterschiedlichen Alterskategorien. Die Performer:innen in «We All Know Whats Happening» sind Kinder, während die Performer:innen in «Please Stand» bereits junge Erwachsene sind. Die Fragen bleiben die gleichen: Wie werden normative Hierarchien untergraben? Wer ist der Erwachsene, wer ist das Kind, wer der Experte und wer die Lehrerin? Beide Werke präsentieren sich wie eine Geschichtsstunde, jedoch wird das Theater als einen Ort genutzt, um die Art und Weise, wie Geschichte gelehrt wird, zu dekonstruieren und um die Bauweise von Narrativen zu entlarven. Wir konzentrieren uns in dieser Auseinandersetzung auf die Phase des Lebens, in welcher der Mensch anfängt zu lernen und sich eine Meinung zu bilden. Und ja, auch Hymnen lernt man als Kind. Meistens in einem Alter, in dem man noch nicht ganz versteht, was man da singt und was einem damit vermittelt werden soll.

Nichts repräsentiert die Zukunft auf so emotionale und unschuldige Weise wie Kinder und junge Menschen. Ihre Anwesenheit löst oftmals größere Betroffenheit aus. Ich frage mich jedoch: Kann es die gewünschte mobilisierende Wirkung tatsächlich auslösen oder entlastet es das erwachsene Publikum zu sehen, dass sich die junge Generation kümmert? Mit anderen Worten: Kann die Darstellung von jungen Menschen auf der Bühne die Frage nach Verantwortung stellen, die schlussendlich über den Theaterraum hinausgeht?

LARA THOMS: Ich denke ja. Wir arbeiten gerne mit Darstellenden, die nicht nur ausgebildete Schauspielende sind, sondern die tatsächlich die Erfahrung besitzen, um welche es gehen soll. Sie spielen im Wesentlichen sich selbst auf der Bühne. Diese Realität schafft es, den Graben zwischen dem Theater und dem sozialen Leben zu verkleinern. Die Erwachsenen sollen herausgefordert und verantwortlich gemacht werden. Sie sollen sich als Teil des Problems erkennen.

Die Gefahr, dass die jungen Menschen instrumentalisiert werden, gibt es aus eurer Sicht nicht?

Du meinst, es kann so aussehen, als würden die Erwachsenen die Kinder manipulieren?

Ja, genau.

Ja, das ist definitiv ein Mittel, welches eingesetzt werden kann. Ich denke, dass es in diesem Zusammenhang wirklich wichtig ist zu betonen, dass wir mit Menschen zusammenarbeiten, die ähnliche politische Überzeugungen haben wie wir. Es wäre ziemlich einfach für uns, an eine Schauspielschule zu gehen und Personen auszuwählen, die für uns Aktivist:innen spielen. Schauspielende, die vorgeben, gewisse Meinungen zu haben, die von uns geschrieben wurden. In dieser Arbeit stecken jedoch die tatsächlichen Gedanken, Meinungen und gelebten Erfahrungen unserer Kollaborateur:innen. Negar denkt mit uns seit drei Jahren über dieses Projekt nach. Ihre Fluchterfahrungen sind auf keiner Ebene etwas, was wir als unsere eigenen Erfahrungen ausgeben könnten.

Was würdet ihr lieber tun? Aufstehen und singen oder euch hinsetzen und schweigen?

Wenn es um Nationalhymnen geht, setze ich mich hin und schweige. Ich glaube nämlich, dass die Welt und ihre Nationen zu komplex sind, um sie in einem einzigen Liedtext zusammenzufassen. Aber singen im Allgemeinen? Klar! Ich bin immer daran interessiert zu partizipieren.

SAMARA HERSCH: Ich singe gerne, aber Hymnen… Ich habe noch keine gefunden, die mich anspricht. Ich meine, es gibt einige Hymnen da draußen und wir haben ein paar schöne Melodien gefunden. Aber die Hymnen, die mir in meinem Leben begegnet sind, sprechen mich nicht an, sie sprechen auch nicht für mich oder mit mir. Wir brauchen mehr Frauen, die Hymnen schreiben.

LARA THOMS: Ja! Es gibt keine Nationalhymne, welche von Frauen geschrieben wurden.

* Im August 2013 unterschrieb der damalige australische Premier Minister Rudd mit dem Präsidenten der Republik Nauru eine Absichtserklärung, nach welcher Asylsuchende direkt nach Nauru in Einwanderungshaft überführt werden, während ihr Antrag von der australische Regierung verarbeitet wird. https://www.aph.gov.au/About_Parliament/Parliamentary_Departments/Parliamentary_Library/pubs/rp/rp1415/RefugeeLawPolicy, Zugriff Juli 2022

Samara Hersch hat ihren Master am Das Theatre in Amsterdam absolviert. Ihre Arbeiten wurden unter anderem am BUDA, SICK! Festival, Liveworks Festival, Spielart Festival, Arts House, Modestraat, Auawirleben Festival, Far Fabrique (West Kowloon), Impulse Theater Festival, und an den Kammerspielen München gezeigt. Lara Thoms arbeitet nicht nur künstlerisch, sondern auch wissenschaftlich sowie als Kuratorin und Produzentin für Organisationen wie Dark Mofo, Supplefox, Next Wave and Performance Space. Ihre Arbeiten wurden u.a. beim Perth International Arts Festival, Arts House, Gertrude Contemporary, The Malthouse, Next Wave Festival und dem MCA Radial System (Berlin) präsentiert. Ihre gemeinsame Arbeit «We All Know What’s Happening» hat den ZKB Jurypreis und Publikumspreis am Theaterspektakel 2019 sowie den Green Room Award für Beste Zeitgenössische und Experimentelle Performance 2017 gewonnen.

Das Interview wurde online am 11. Juli 2022 geführt.