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Sophia Fries

April

Das Wetter beeinflusst die Atmosphäre. Es wandert, schwankt, verändert sich und bleibt dabei immer
eine diffuse Unbekannte. Kontinuierlich morphend, verändern sie nicht nur die Lichtverhältnisse des
Tages. Heute wird der Saharastaub um die halbe Welt transportiert und beschleunigt das Schmelzen des Morteratschgletschers. Morgen staut sich die Polarluft in den Alpen. Und übermorgen oder gestern und all die Sekunden und Minuten dazwischen fühlen wir mit dem Wetter mit. Ein poetische Sammlung von meteorologischen Gedanken.

Wir liegen weiterhin am Südrand eines Hochdruckkomplexes.

Mittwoch

Es ist lange her, dass ich T gesehen habe, und mein Anruf ist auch einem schlechten Gewissen geschuldet. Ich frage sie, wie es ihr gehe und ob das Wetter bei ihr auch so schön sei. Hier ist der Regen endlich abgeklungen und heute konnte ich das erste Mal auf dem Balkon frühstücken. Der Sommer könne meiner Meinung nach kommen, sage ich und bemerke die Stille am anderen Ende nicht gleich.

T ist jünger als ich und nur beinahe mit mir verwandt. «Gut», antwortet sie schliesslich zögernd. Dann sagt sie, diesmal in einer höheren Tonlage, dass sie aber auf keinen Fall über das Wetter reden wolle. Das mache sie traurig und überhaupt sei es ein langweiliges Thema. Sie sagt, dass Bäume sterben, überall, aber vor allem nördlich gelegene Nadelwälder seien bedroht, das habe sie im Internet gelesen, und ausserdem drohe uns der wärmste Sommer des Jahrhunderts. Später sagt sie «Skifahren» und erzählt von Hängen ohne Gras. Sie sagt «in Indien», korrigiert sich und sagt stattdessen «in Uttarakhand» und dann sagt sie mehrmals «betroffen». Sie sagt nicht «Klimawandel», sondern «-krise» und mehrmals «jetzt» und «bedingungslos» und sie macht nach jedem Satz eine rhetorische Pause. 

Als ich auflege, sind meine Hände feucht und mir ist plötzlich sehr heiss. Ich lege meinen Fuss auf den Heizkörper neben dem Bett und bemerke, dass dieser noch immer Wärme ausstrahlt. Ich drehe den Regler bis zum Nullzeichen zurück und öffne ein Fenster. Der Himmel hat sich mittlerweile wieder verdunkelt und ich muss unwillkürlich an die Verzweiflung denken, die T beim letzten Besuch übermannt hat und über die wir auch heute nicht gesprochen haben.

Der Himmel bleibt heute stellenweise ganztags grau.

Freitag

Seit heute Morgen strotzt mein Körper vor Energie. 

Ich betrachte das massive Wolkengebilde, das sich über dem nordeuropäischen Inselkomplex zu einem Wirbel zusammenbauscht.

Das Satellitenbild gleicht der zweifarbigen Masse, die in der Rührschüssel meiner silbernen Küchenmaschine vor sich hin gemischt wird. Ich finde es schön. Auf dem splitternden Display wechselt die Ansicht zu der Frau im roten Mantel, die schlechtes Wetter für die ganze nächste Woche ankündigt und vor dem Wind warnt, der bald auch unseren Breitengrad erreichen soll. Ich denke an all die Bücher, die sich neben meinem Bett stapeln, und an die Wollsocken und freue mich insgeheim darüber, dass der für morgen geplante Brunch im Garten meiner Mutter nun ins Wasser fallen wird. In die kleine Küche passt die ganze Familie schon lange nicht mehr.

Genüsslich lecke ich mir den süssen Teig von den Fingern und beschliesse, später tanzen zu gehen. Ich fühle mich sehr jung.

Starkwind als mögliche Unfallursache.

Samstag

Ich schaue auf die Scherben, die Überbleibsel des Glases, das ich gerade noch in der Hand gehalten habe. Das Sprudelwasser, das jetzt meine Füsse nässt, gibt seine letzten CO2-gefüllten Luftblasen an die Atmosphäre ab. Die Frau, die heute in eine blaue Regenjacke gehüllt ist, sagt, dass der Sonntag eine trübe Angelegenheit wird. Der Sturm, der den Namen meines Freundes trägt, hat gestern scheinbar ein paar Züge umgepustet. 

Dieses Jahr, es ist ein ungerades, tragen alle Tiefs im deutschen Raum männliche Vornamen. 200 Euro kostet eine Wetterpatenschaft mit einem Luftdruckgebiet, dann darf man einen Sturm taufen. Für den kommenden Monat werden Norbert, Olaf, Peter, Quax, Rudolf, Sven, Tarek, Udo, Vasco und Wolf erwartet. Ich denke daran, dass der Begriff Tiefdruckgebiet auf Englisch depression heisst, und dann denke ich an Diagnosen im Allgemeinen. Ich frage mich, wie es T heute geht, währenddessen ich mich daran mache, die Scherben einzusammeln. 

  

Später werden Bilder der umgekippten Zugwaggons eingeblendet. Die Wagen sehen hilflos aus in Seitenlage und mir steigen unerwartet Tränen in die Augen. 

Heute Hochnebel, der sich auflockert, dann zunehmend sonnig.

8 Grad. Fiese Bise: gefühlte 3 Grad.

Dienstag

Das frühe Sonnenlicht hatte mich getäuscht und ich merkte gleich, dass es eigentlich noch zu kalt für meine Übergangsjacke war. Der graue Windbreaker hielt den frostigen Luftzug zwar etwas zurück, irgendwann kroch die Kälte dann aber trotzdem unter den Ärmeln hindurch. Als es dann noch zu regnen anfing, fror ich bereits. Triefend und schlotternd kam ich nach Hause, die Papiertasche mit meinen Einkäufen durchnässt und dem Reissen nahe. 

Jetzt versuche ich mit einer warmen Dusche das kalte Wesen aus meinem Körper zu verjagen. Die feuchte Luft kondensiert an den Badfenstern. Als ich fertig bin, spüre ich noch einen kleinen Rest Kälte in mir. Sie ist an meinem Rückgrat entlanggewandert und hat sich dann zwischen den Schulterblättern einnistet. Ich trockne meinen dampfenden Körper, währenddessen der milchige Schleier auf der Scheibe immer mehr verläuft und in Rinnsalen gemächlich der Schwerkraft entgegenfliesst. 

Ich habe mich aufgelöst vor dem Spiegel und erst der warme Wind des Haartrockners gibt meinem Gesicht wieder etwas Kontur. Nachdem ich den Stecker gezogen und das Fenster geöffnet habe, schaue ich zu, wie die nach Lavendel duftende Dampfwolke langsam in der kühlen Nachtluft verschwindet. 

Mittwoch

Verschwenderisch sendet meine Stirn alle Wärme in den Raum. Das Thermometer ist angestiegen, es zeigt 38°C, und ich ziehe mir die Decke bis unters Kinn. Draussen sehe ich einen Menschen im T-Shirt die Strasse überqueren. Seine grauen Haare tanzen im Wind und ein kindlicher Ausdruck hat sich auf sein Gesicht gestohlen. Fröstelnd verkrieche ich mich tiefer unter der Decke, kann dem dumpfen Schmerz in meinem Kopf aber auch im Schlaf nicht entkommen. 

Als das Pochen in meinen Schläfen immer stärker wird, versuche ich es mit einer Schmerztablette. Langsam löst sie sich im Wasser auf und ich trinke die milchige Flüssigkeit. Sie wird alle meine weiteren Gedanken im Nebel versenken.

Dankbar gleite ich der dumpfen Schwere entgegen. Das Letzte, das ich spüre, ist der Bund meiner Trainerhose, der mir in die Haut schneidet. Ich bin mir sicher, dass es heute nur die Kleidung ist, die mich zusammenhält.

 

Die Gewitterneigung bleibt durch eine Störungszone gross. Wir sind bis auf Weiteres in einer dynamischen Westlage, in der uns in kurzen Abständen immer wieder Fronten erreichen.

Donnerstag

Meine Glieder liegen schwer auf der Matratze und ich höre dem Regen zu. Ich frage mich, was die Moderatorin mit schlechtem Wetter gemeint hat. Es sieht schön aus, wie das Wasser in feinen Streifen an der Scheibe herunterrinnt und die städtische Agglomeration vor meinem Fenster verschwimmt. Das Grau des Himmels und das des Betons verschmelzen zu einer facettenreichen Farbpalette.

Die Wolken, die sich erst spielerisch anstupsten und dann ausgelaugt übereinanderlegten, haben sich mittlerweile zu einer dichten Masse aufgetürmt. Mit müdem Blick folge ich ihrer immer dramatischer werdenden Choreografie. Der Wind fegt über die Hauswand, zerrt mit aller Kraft an den Fensterläden, und plötzlich erhellen Blitze den Himmel – natürliche Stroboskope, die die bewegte Landschaft wie eine Abfolge abgehackter Einzelbilder erscheinen lassen. Ich muss unwillkürlich an Virginia Woolf denken, die das Gewitter vor ihrem Fenster einst als gigantisches Kino bezeichnete. 

Der Donner lässt das Glas erzittern und in der darauffolgenden 

Stille höre ich meinen Puls in meinen Schläfen pochen. 

Als das Gewitter etwas nachlässt, klicke ich mich durch die Story von B, der gerade seine Familie in Pakistan besucht. Das Video ist unscharf und zeigt drei nasse Gestalten auf matschigem Grund. Es regnet stark. Jemand sagt laut «beautiful, beautiful» im Hintergrund.

Es ist wechselhaft bis stark bewölkt.

Freitag

Draussen regnet es noch immer in Strömen. Das Vibrieren meines Mobiltelefons reisst mich aus dem Schlaf. Es ist eine Nachricht von E: Bei uns hat es gefackelt. Dazu ein Flammen-Emoji.

Später erzählt er, dass für die Wohnung im obersten Stock jede Hilfe zu spät kam, dass sie komplett ausgebrannt sei – trotz des Regens. Das Dach sei nun löchrig und heute morgen habe es auf sein Bett getropft.

Beim Lüften am frühen Abend sind die Wolken dunkelgrau und es riecht nach Rauch. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das einbilde.

Es folgt ein schwaches Zwischenhoch mit aufgelockerter Bewölkung. Heute ist es mindestens zeitweise sonnig.

Samstag

Der Regen hat nachgelassen und auch meine Erkältung ist etwas abgeklungen. Trotzdem fühle ich mich niedergeschlagen. Ein feines Ziehen im Bauch erinnert mich an das Stadium meines Zyklus. Bald wird wieder Blut aus mir rinnen und ich werde müde sein. 

Die Sonne scheint ins Zimmer. Ihr Licht macht das gelbe Pulver an den Scheiben sichtbar, welches fein die Umrisse der ehemaligen Regentropfen nachzieht. Ich muss niesen, als ich das Fenster einen Spalt breit öffne. Die kleinen Staubkörner tanzen im einfallenden Licht. Plötzlich muss ich daran denken, wie das Wetter auf mich einwirkt und ich mich auf das Wetter auswirke. Bin ich vom Wetter besessen, frage ich mich, oder bin ich selbst das Wetter? 

Zumindest in meinem Zimmer nimmt mein Körper meteorologische Ausmasse an. Ich atme und die Windrichtung ändert sich, ich schwitze und die Luftfeuchtigkeit nimmt zu. Ich leere den Tee über den Parkettboden und ich hänge kleine Diamanten aus Glas ans Fenster, die je nach Sonneneinstrahlen Regenbogenflecken an die Wände malen. Ich putze und wirble dabei Staub auf, später koche ich Zwiebeln und vom Geruch wird mir schlecht. 

Im Laufe der Nacht breitet sich von Westen eine Störung aus, die schaueranfällige Luft zieht heute in Form von Niederschlag nach Nordosten weiter.

Montag

Das Wetter ist launisch. Es hat sich in Form von feuchter Luft in den warmen Raum gestohlen. Schwül ist es jetzt, 51.6 % humidity zeigt das Messgerät an der Wand – ein Zeuge der pandemischen Lüftungswut. Das Treppenlaufen hat mich zusätzlich aufgewärmt, ich schwitze und die Luft fühlt sich dick an in meinen Lungen. Das unregelmässige Klappern von Fingern auf Computertastaturen füllt den Raum, gelegentlich begleitet vom Brummen des schwarzen Hundes in der Ecke. Irgendwie beruhigend. Mein schwarzer Hut beschränkt meine Sicht. Er schützt mein Gesicht vor Regentropfen und mich vor ungewolltem Augenkontakt. Nach einer halben Stunde werde ich endlich ins Zimmer gerufen. Die Frau in weiss schlingt mir ein Band um den Oberarm und misst meinen Puls. Später schickt sie mich mit einem unterschriebenen Stück Papier nach Hause.

Erneut: blockierende Hochdrucklage.

Freitag

Die Sonne liegt neben mir im Bett und es ist heiss, viel zu heiss für die Jahreszeit. Alles schreit «Sommer», die Vögel schreien auch, die Hitze bringt die Luft zum Flimmern. Ich denke an T und in meiner Nase sammelt sich Staub. Die Blütenpollen haben ihren Weg durchs offene Fenster gefunden, legen sich auf alles, bilden eine feine gelbe Schicht auf dem Boden, dem Tisch, der Kommode. Auch das weisse Bettzeug ist von einem zart-gelblichen Film überzogen. Ich kann die Quelle dieser winzig kleinen Körner, Erzeugnisse der pflanzlichen Geschlechtsreife, nicht ausfindig machen – die Landschaft draussen ist grau, alles Erdige wurde vor langer Zeit sauber verputzt und versiegelt, der gelbe Zebrastreifen auf der Strasse ist der einzige Farbtupfer in der nahen Umgebung. Pflanzen sind höchstens in den Wohnungen vorhanden, kaum eine ziert den Wegrand. Die Ausnahme bildet ein einziger Baum, der sich gegen die Betonwüste lehnt, doch auch er hat sich farblich angepasst. Sein Stamm ist silbrig-grau, die Blätter tragen einen faden Rotton und die Vögel, die den Baum bevölkern, schwarz bei jeder Jahreszeit.

Ich flüchte in den Keller, wo es kühl ist. Dort beruhigt sich   mein Herzschlag etwas. Fast erleichtert fülle ich die Waschmaschine mit Kleidern und denke daran, wie auch sie nach und nach an Farbe verloren haben – ganz so als hätte sich die Aussicht vor meinem Fenster ins Textil gewoben. Nur der feine Schriftzug Made in Bangladesh ist trotz des vielen Waschens kaum verblasst.

Der Wettertrend für Ende Woche ist noch unsicher und mit Vorsicht zu geniessen.

Samstag

Ich putze den Staub vom Fensterbrett, sauge ihn vom Boden und wässere die drei Pflanzen. Die Frau im roten T-Shirt verkündet die Wettervorhersage von heute, in den Nachrichten berichten sie von Wohnungsnot in Zürich und B schreibt, die Überschwemmungskatastrophe in Pakistan jähre sich bald.

Ich muss an meine Grossmutter denken, die glaubte, das Wetter sei von Gott gemacht. Sie hat uns früher immer gezwungen, den Teller leerzuessen, um Regen zu vermeiden. Dann denke ich an die Traurigkeit von T und an meinen Vater, der davon überzeugt ist, dass das Wetter aus einer verrechenbaren Datenmenge besteht. Das Resultat aus Windgeschwindigkeit und Niederschlagsmenge, Albedo, Temperatur und Barometerstand. Beim Abstauben des Bücherregals stelle ich mir das Wetter als Bild vor, als kartenähnliche Grafik mit verschiedenfarbigen Flecken, welche die Menschen auf Tapeten drucken und an die Fassaden der Häuser kleben. Die Farbflächen würden sich nach und nach im Regen auflösen und als feine Rinnsale die Strasse hinunterlaufen, oder sie würden langsam im Sonnenlicht vergilben. Bei dem Gedanken schleicht sich ein Lächeln auf mein Gesicht.