ANYONE CAN BE PUSSY RIOT
(TG: Sexuelle Gewalt)
PUSSY RIOT – NOW
Diana Burkot von Pussy Riot betritt in der Werft als erste die Bühne. Sie geht in schwarzer Radelhose zu ihrem Drum- und DJ-Set. Als zweite folgt Taso Pletner, die mit einer Querflöte tief verstärkte Klänge in die Halle wirft.
Darauf marschieren zwei weitere Riot grrrls, Maria Alyokhina und Olga Borisowa, in neonfarbenen Sturmmützen auf die Bühne.
Alyokhina positioniert sich in der Mitte der Bühne als Dreh- und Angelpunkt des Stücks. Sie gehört zu den drei Künstlerinnen, die 2012 für ihr «Punkrock-Gebet» in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau festgenommen und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurden. Doch die Gefangenschaft hielt keine der Aktivistinnen auf. Seither wehren sie sich beständig und kompromisslos gegen Putin, gegen das Patriarchat und für Demokratie in Russland. So geht es auch mit der Performance «Riot Days» weiter, die auf dem Buch basiert, das Alyokhina über ihre Erfahrungen in Gefangenschaft und als aktivistisch-feministische Künstlerin schrieb.
In einem rasanten Zusammenspiel von Filmaufnahmen, die auf eine grosse Leinwand projiziert werden, und sarkastischem Sprechgesang der Künstlerinnen, erzählen sie die Geschichte von Alyokhina. Mal schreien sie Tagebuchauszüge aus dem Gefangenlager im Sprechchor, mal äffen sie kafkaeske Beamtengespräche nach, während im Hintergrund Aufnahmen von Prozessen, Protesten und russischem Schnee spielen. Wer für ein «Konzert» gekommen ist, denn so ist die Performance gelabelt, wird wohl enttäuscht. Musik spielt nur eine sehr untergeordnete Rolle, die Erwartung danach wird noch am ehesten von Anton Ponomarev erfüllt, der ein paar Mal auf die Bühne kommt und kleine dissonant-punkige Intervalle mit seinem Saxophon bestreitet.
Je länger die Performance geht, umso mehr spitzt sich das Tempo zu, bis hin zu einem tobenden Moment, in dem Taso Pletner auf einen Tisch steigt, ihren Rock anhebt und auf ein Putin-Porträt pisst, das sie unter dem Tisch aufgestellt hat. Der Urin fliesst über das linke Auge Putins, er lächelt statisch ins Publikum.
Während Pussy Riot auf der Bühne wütet, sind die Zuschauer:innen an ihre Sitzplätze gebunden, müssen den Frauen bewegungslos zuschauen. Ein Sinnbild für das fehlende Engagement des «Westens» im Widerstand – Pussy Riot und andere Aktivist:innen warnen schon lange vor Putin und seiner Politik, lange vor dem Angriffskriegs Russlands, und als die Frauen für ihren Protest ins Gefängnis gingen, empörte man sich in Mitteleuropa höchstens.
Wir Zuschauer:innen starren also unbewegt, Taso pinkelt, und Diana Burkot haut auf die Drums ein. Mein Blick bleibt an ihren sehr kurzen, sehr engen Radelhosen hängen, die mich an meine eigenen erinnern.Kurz schweife ich in Gedanken ab.
EINFACH IGNORIEREN UND WEITERGEHEN
Ich besitze auch schwarze Radelhosen. Ich trug sie gern, bis zu einem heissen Sommertag im Juni. Da las ich morgens auf einer Newsapp von einem sexuellen Übergriff an einer Frau in einer Schweizer Stadt. Sie sei von zwei Männern verfolgt worden, ein Sexualdelikt sei verübt worden, genaueres wisse man noch nicht. Zeug:innen würden gesucht. Obwohl ich weiss, dass kein sexueller Übergriff an der Kleidung oder Nacktheit des Opfers liegt, sondern an der Gewaltbereitschaft der Täter:in, spürte ich ein unangenehmes Ziehen in der Magengrube, als ich an diesem Tag meine Radelhose anzog.
«Sind sie nicht doch ein wenig kurz?» fragte ich mich, und antwortete mir, dass ich mich das nur wegen Anderen fragte, nicht wegen mir. Ich zog sie an. Unterwegs durchquerte ich auf meinem Fahrrad einen Park. Ein Mann sass alleine auf einer Bank, er starrte mich von Kopf bis Fuss an, sein Blick blieb an meinen Radelhosen hängen und er begann den Kopf zu schütteln. Ich zog die Augenbrauen zusammen und starrte zurück. Bald danach fuhr ich nach Hause und zog mich um.
Ich weiss, dass ich nicht die Einzige bin, die so etwas kennt. Und obwohl ich wütend bin, wehre ich mich oft nicht. «Einfach weitergehen» oder «einfach ignorieren» ist der meistgehörte Ratschlag im Laufe meines Lebens, wenn es um Belästigungen auf offener Strasse wie Catcalling geht. «Weitergehen» oder «ignorieren» ist vieles, aber «einfach» ist es nicht. Es tut weh, und ausserdem: es ändert nichts. Was also tun gegen patriarchale Strukturen? Gegen Belästigung und Ungerechtigkeit?
RIOT – TOMORROW
«ANYONE CAN BE PUSSY RIOT», schreien die vier Frauen in die Mikrofone.
Nicht nur kann jede:r Pussy Riot sein, es sollen auch möglichst viele Pussy Riot sein.
Den letzten Part der Performance widmen Pussy Riot der Ukraine. Die Hälfte aller Einnahmen der Tour gehen an ein ukrainisches Kinderspital, sie rufen zu Spenden auf, während sie Filmaufnahmen aus ukrainischen Kriegsgebieten im Hintergrund spielen lassen. Wie die Spenden vor Ort gelangen, wird nicht ganz klar, und hier müssen die Zuschauer:innen einfach auf das Wort von Pussy Riot vertrauen. Es stört niemanden – als die letzten Takte ausklingen, tost bereits Applaus von den hintersten Sitzreihen bis zur Bühne, das Publikum erhebt sich zu einer standing ovation. Die vier Künstlerinnen sind sichtlich gerührt und Maria Alyokhina spricht noch einmal ins Mikrofon: «Please, don’t be indifferent.» Sie fordern ein totales Embargo auf russisches Öl und Gas. Und sie fordern, dass wir uns alle wehren für Frieden, Gleichstellung und Menschenrechte. Kein «einfach weitergehen» oder «einfach ignorieren» mehr.
«Es gibt keine Freiheit, für die man nicht kämpft» ist einer der letzten Sätze, die hinter Pussy Riot über die Leinwand ziehen.
Auf dem Weg nach draussen nehme ich mein Handy aus der Tasche und öffne Whatsapp, um einer Freundin zu schreiben:
«Hey! Hast du Lust mit mir zusammen ein Riot Grrrl zu werden?»
Die Antwort kommt sofort:
«JA!»
«Pussy Riot» ist ein loses feministisches Kollektiv, das 2011 in Russland gegründet wurde. Viele der Mitglieder sind anonym, alle können «Pussy Riot» sein. Maria Alyokhina und Diana Burkot sind Gründungsmitglieder der Gruppe und touren zusammen mit Taso Pletner und Olga Borisowa mit der Performance «Riot Days» durch Europa. Ihr Hauptziel ist ein feministischer Protest gegen Krieg und Totalitarismus, sowie für die Rechte von LGBTQIA+.
Spezialausgabe
Andere Augen
Noëmi Roos (*1995) studiert im Master Kulturpublizistik. Nach einem Studium in Geschichte und Literatur widmete sie sich dem journalistischen und freien Schreiben. Ihre Interessen liegen in der Literatur, gesellschaftlichen Fragen und der Popkultur.