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Melisa Muhtari

Ankommen im Anderssein

«Typisch Ausländer!» rief Chantal mir zu, drehte sich um und rannte davon. Chantal und ich waren neun Jahre alt und gingen in dieselbe Klasse. Sie hatte rotbraune Haare, die sie vorne aufgestellt, hinten lang trug: eine Mischung aus Vokuhila und der damals in den 90er Jahren angesagten «Igelifrisur», die sonst nur Jungs trugen. Wir waren gerade auf dem Nachhauseweg gewesen, ich wie immer mit meinen Freundinnen, sie mit Jonathan aus unserer Klasse. Ich weiss nicht, was sie dazu veranlasste, mich zu beschimpfen. Hatten meine Freundinnen und ich ihr vielleicht eine romantische Beziehung mit Jonathan unterstellt und dabei zu laut gekichert? Tatsächlich passten sie äusserlich gut zusammen, denn Jonathan, der zwar ein wenig nerdy, aber total nett war, trug eine ähnliche Frisur mit einem langen, dünnen Zopf, der ihm bis unters Schulterblatt reichte. Perfect Match also!

Nicht so bei uns. Chantal und ich sassen neun Jahre lang Tag für Tag im selben Klassenzimmer. Wir hatten die gleichen Stundenpläne, gingen zusammen auf Schulreisen, lernten beide dank des Bonne Chance Französisch, bei Herr Scheidegger Geometrie und mit Frau Bögli stricken. Wir wuchsen in der gleichen Nachbarschaft auf, nur wenige hundert Meter voneinander entfernt. Wir liefen täglich dieselbe Strecke zur Schule und hatten mit denselben Problemen zu kämpfen: Etwa wenn der erste Schnee fiel und die Jungs aus unserer Klasse uns vor dem Schuleingang abpassten, um uns zu «wäsche», was soviel hiess wie uns einen Klumpen Schnee ins Gesicht zu pressen und ihn zu verreiben – am besten, bis er komplett geschmolzen war. Gelegenheiten, uns anzufreunden, hätte es in all den Jahren viele gegeben. Ich weiss nicht, ob es an ihrem Haarschnitt lag, daran, dass ich sie nie besonders lustig oder nett fand, oder vielleicht doch an den zwei Worten, die sie mir an diesem Tag entgegenschleuderte. Aber Chantal und ich wurden in all den Jahren nie Freundinnen. Dabei verstand ich in diesem Moment weder das Wort «typisch» noch das Wort «Ausländer».

Meine Eltern schon. Das konnte ich an ihren in die Höhe schnellenden Augenbrauen ablesen, als ich mich zuhause angekommen erkundigte: «Sta znaci ‹typisch Ausländer?›» (Was bedeutet «typisch Ausländer»?) Der Blick meines Vaters taxierte mich mit seinen blau-grünen Augen. Die gute Stimmung am Mittagstisch war augenblicklich gekippt. «Woher hast du das? Hat das etwa jemand zu dir gesagt?», fragte er mit einem scharfen Ton in der Stimme. Das verhiess nichts Gutes. Ich verfluchte mich innerlich. Hatte ich mir gerade etwas eingebrockt wie damals, als ich meinem Vater den Mittelfinger entgegenstreckt hatte ohne zu wissen, was er bedeutete? «Chantal», sagte ich leise, und weil mein Vater die Kinder aus meiner Klasse nicht alle beim Namen kannte, beschrieb ich, wie sie aussah. Meine Mutter eilte mir zur Hilfe und meinte: «Das ist die Tochter von der mit den rot gefärbten Haaren und dem dicken Hintern, die gleich bei der Endhaltestelle wohnt!» Mein Vater entgegnete: «Das hat sie bestimmt von ihren Eltern. Das Mädchen weiss vermutlich nicht mal, was das bedeutet!» Dann wandte er sich mir zu. «Du musst jetzt nicht wütend auf sie sein, sie kann nichts dafür.» Doch weshalb sollte ich wütend sein? Noch immer hatte mich niemand aufgeklärt. «Was bedeutet es denn nun?», fragte ich. «Das sind Leute, die nicht von da, also keine Schweizer sind!», herrschte er mich an. Er war offenbar aufgebracht. Ich war auf alles gefasst gewesen, doch mit einer solchen Antwort hatte ich nicht gerechnet. Was sollte denn so schlimm daran sein, nicht «von da» zu sein? Schliesslich gab es auch andere schöne Orte. Ausserdem stimmte es ja, wir waren nicht «von da», wir kamen aus Sarajevo. Sa-ra-je-vo – ich liebte es, den Namen meiner Stadt auszusprechen. Darauf war ich immer stolz gewesen. War das etwa etwas, wofür ich mich schämen sollte?

Es war, als würde mir jemand meinen Platz in der Mitte absprechen und mich an den Rand drängen, ohne dass ich genau verstand, weshalb. Ich ahnte, dass es da draussen ein «Wir» gab, zu welchem ich nicht gehörte. Dieses Gefühl hatte ich von da an immer wieder. Dabei waren es gar nicht so sehr die Beschimpfungen, sondern die (scheinbar) harmlosen Fragen und Kommentare in meinem Alltag, die dafür sorgten, dass ich mir anders vorkam. «Wo kommst du her?» «Bist du Italienerin? Oder Türkin?» Mädchen mit dunkelbraunen Haaren und langen Augenbrauen konnten unmöglich Schweizerinnen sein, liess man mich wissen. Mit meiner Antwort waren die meisten aber dann doch nicht zufrieden. «Bosnien? So siehst du gar nicht aus!» «Muhtari, das klingt doch eher so nach Iran!» On top gab es zweifelhafte Komplimente: «Du kannst aber gut Deutsch!» Ich hatte mein Deutsch von Biene Maja, Nils Holgersson und Heidi höchstpersönlich gelernt – sprachen die etwa nicht perfekt? Während meine Klassenkameradinnen weiterhin Wörter wie «hennä» oder «hässig» in ihre Deutschhefte kritzelten, grübelte ich noch lange, welche versteckte Botschaft sich hinter diesem seltsamen «aber gut!» verbarg.

Heute sind Fragen und Kommentare wie diese nicht seltener geworden, doch sie irritieren mich kaum noch. Besonders glücklich bin ich darüber aber nicht, denn es bedeutet, dass ich die Welt nun auf eine Art betrachte, die mir zuvor fremd war. Manchmal würde ich gerne zurück an den Punkt, als Ausdrücke wie «Ausländer» noch keine Rolle spielten und ich noch nichts von Stereotypen, Klischees und Vorurteilen wusste. Aber das ist gar nicht so einfach. Haben es die entsprechenden Bilder erst einmal in den eigenen Kopf geschafft, wird man sie so schnell nicht wieder los.