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Xena Paloma Stucki

Anjas Fall

Anja fällt durch Schichten der Welt und der Bedeutung eines Wortes.

Anja hält die Hand ihrer Omi. Das möchte sie jedoch eigentlich gar nicht. Lieber will sie alleine losrennen, auf das kleine Mäuerchen am Trottoir springen, darauf balancieren und wieder superschnell runterspringen. Und da vorne ist auch ein Geländer, an welchem sie turnen kann. Anja ist voller Energie und bereit für den Parcours, doch die Hand ihrer Grossmutter ist wie ein Schraubstock. Schliesslich erreichen sie vermeintlich sicheres Terrain, wohlwollend löst sich die alte von der jungen Hand. Anja springt mit einem Satz davon. Irgendetwas passiert. Sie verheddert sich, bleibt hängen – was es genau ist, spielt keine Rolle, das Ergebnis ist dasselbe: Anja fällt. Frust und Schmerz zeichnet sich in ihrem Gesicht ab, wobei primär ersteres ihr die Tränen in die Augen steigen lässt. In ein paar Tagen werden sich knusprige Schürfwunden über ihre Knie erstrecken. Dann wird ein unerbittlicher Kampf beginnen: ein Kampf zwischen der dunkelbraunen Kruste und den pulenden Kinderhänden: Körper kämpft gegen Forscherinnengeist, Schorf gegen Anja. Nach ein bis zwei Wochen wird der Kampf beendet sein, frische rosafarbene Haut wird auf Anjas Knien zurückbleiben.

Fallen und die damit einhergehenden Schürfungen sind fester Bestandteil einer aktiven Kindheit und beides verschwindet mit dem Älter- und auch Grösserwerden. Dass das Wissen um das Fallen unwiederbringlich verloren ist, zeigt sich auch daran, dass Menschen im hohen Alter anscheinend nur noch stürzen und nicht mehr fallen.

Fallen ist ein Prozess, dem eine gewisse Trägheit zugeschrieben wird. Wenn Anja also fällt, ist der Fall etwas das mit Anja passiert und befindet sie sich mal im Fall, ist dieser auch kaum mehr aufzuhalten. Die Trägheit des Fallens zeigt sich auch daran, dass Fallen mit «in Richtung Boden bewegen» oder «auf den Boden geraten» definiert wird. Bewegen und geraten sind dabei Worte, die weder besonders dynamisch sind noch besonders schwerwiegende Konsequenzen erwarten lassen. Ein Sturz ist brutaler, kräftiger und überraschender als ein Fall. Im Sturz wird nicht mehr bloss bewegt und geraten, nein es wird «jäh in die Tiefe» oder «mit Wucht gefallen». Die Auswirkungen eines Sturzes sind gravierender als jene eines Falls. Nachdem Anja den ersten Schock überwunden und sich mit den Händen die Tränen weggewischt hat, rappelt sie sich wieder auf und rennt zurück zu ihrem Omi. Wenn Anjas Omi jedoch stürzt, bleibt sie meist erstmal liegen und ein längerer Spitalaufenthalt als Folge ist auch nicht selten.

Eigentlich fällt niemand gerne und wenn sich doch Liebhaber*innen des Falls finden, dann sind diese eben das: Liebhaber*innen des Falls und nicht des Aufpralls. Dadurch erklärt sich, warum es Fallschirmspringer*innen oder Bungeespringer*innen gibt: der Liebe des Falles wegen, ohne die Konsequenzen des Aufpralls ertragen zu müssen. Fallen ist doch, wenn wir den Aufprall ausser Acht lassen, etwas Wundervolles. Während der Dauer des Falls, im Alltag meist nur während des Bruchteils von Sekunden, verlieren wir jegliche Kontrolle und müssen uns der unaufhaltsamen Abwärtsbewegung hingeben. Wir werden Zeug*innen und Teilnehmende einer Demonstration der Schwerkraft – was für ein erdendes Erlebnis. In unserer Gesellschaft, wo die Worte Leistung, Profit und Wertabschöpfung in Bürofahrstühlen ein andächtiges Raunen auslösen und Grafiken, Bürogebäude und Klassen möglichst nach oben streben, ist es da nicht wundervoll, dass es alle und alles durch das Wunder eines Falls nach unten ziehen kann?

Wir Eidgenoss*innen aber fallen nicht – zumindest nicht in der Deutschschweiz. Wenn Newtons Gesetz an uns zerrt, gheit mensch. So gheit mensch um, abe und dure. Gheiä ist genau diese Abwärtsbewegung, die dem Fall eigen ist. Auch wenn in der Deutschschweiz abe gheit statt runtergefallen, um gheit statt umgefallen und dure gheit statt durchgefallen wird, bedeuten tut es jeweils dasselbe. Mit einer Ausnahme. So gibt es eine Form des gheiä, die nur in der Deutschschweiz praktiziert werden kann. In Basel, Frauenfeld oder Wintersingen können die Menschen auf eine einzigartige Weise dure gheiä. Dure gheiä, ohne dass sich der Körper in irgendeiner Weise in einem Fall befindet. Nein. Dure gheiä – eine Form des unkontrollierten Ausrastens: das Fallen durch jegliche rationalen Gedankenstrukturen, bis es zu einer emotionalen Explosion kommt. Diesen irrationalen, hoch emotionalen Ausbruch, der auch als usticke bezeichnet wird, finden wir in Form des dure gheiä.

Anja hat die meisten Schürfwunden hinter sich gelassen. Unterdessen ist sie eine adrenalinsuchende Freeride-Skifahrerin. Mit ihrem Helm, auf dem sich zwei rote Stiere bekämpfen, saust sie das ganze Jahr hindurch abgelegenen Berghänge runter. Nachdem der Helikopter sie auf der Bergspitze abgesetzt hat und sich das Kamerateam in Position gebracht hat, stösst sie sich ab und macht den ersten Schwung. Wenn sie mit 120 km/h den unberührten Berghang runterrast, sichere Schwünge in den Neuschnee legt, dabei einen kleinen Erdhügel unter dem Schnee nicht sieht, wenn sich ihr rechter Ski an diesem Hügel verhakt, sie ihr Gleichgewicht verliert und den steilen Hang unkontrolliert runterfällt; wenn ihr Fallen, Rollen und Überschlagen ungebremst bis in nicht kontrolliertes Gebiet weitergeht und sie abseits der geplanten Route in einer Gletscherspalte zwischen den Schichten des nicht mehr lange ewigen Eises landet, dann hat sie das Fallen in all seinen Facetten erleben dürfen. Anja ist bis hier, am Grund der Gletscherspalte, um, abe, ine und dure gheit.

Doch hier in der Dunkelheit wird sie noch weiter fallen, wenn auch nicht physisch. Ab dem Moment, in dem sie realisiert, dass das Filmmaterial, welches ihr beispielloses Können festhalten sollte, nunmehr ihr Versagen demonstriert, wird sie Frustration, Wut, Verzweiflung und Unglauben überkommen. Die Starre, die zuvor ihren Körper und Geist fesselte, wird sich lösen und Anja wird zwischen diesen jahrtausendalten Eisschichten zu toben beginnen. Alles nur wegen eines kleinen Hügels. Ein kleiner Hügel, der von Naturgewalten noch nicht platt gemacht wurde, der sich arrogant erhebt und gleichzeitig feige unter der dicken Schneedecke versteckt. Ihr Traum, ihre Ambition, ihr Stolz werden bei dem um, abe, ine gheiä vernichtet und Anja gheit dure. Zwischen den Eisschichten wird ihr so heiss, dass sie ihren Anteil zum globalen Gletscherschmelzen beitragen wird. Das Eis verdient es. Sie wird durch all ihre rationalen Gedankenstrukturen, die ihr sagen, dass sie dankbar sein soll – dankbar, dass sie sich nichts gebrochen hat, dass sie unversehrt ist und dass das Rettungsteam sie gleich aus dieser Spalte ziehen wird – hindurch fallen. Dankbarkeit wird sich zwischen diesen uralten gefrorenen Wassermolekülen an diesem Tag nicht finden. Dafür kommt es zu einer unkontrollierten emotionalen Explosion zwischen den Eisplatten. Anja schlägt wutentbrannt um sich, heisse Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie schlägt ihre behandschuhten Hände wiederholt mit grosser Wucht auf das Eis, ihre Haut platzt an einzelnen Stellen auf. In den kommenden Tagen wird sich Schorf darauf bilden. Sie fällt also noch immer, sie gheit dure – aber bei diesem dure gheiä ist der Aufprall noch nicht in Sicht.

Anja steht am Zürich Flughafen. Sie ist müde von der langen Reise und nach den Strapazen der letzten Abfahrt auch froh, wieder nachhause zu kommen.  Ihre Ausrüstung füllt den ganzen Gepäckwagen.  Die riesigen Taschen, auf denen ihr Name gedruckt steht und auf denen zwei rote Stiere im Kampf zu erkennen sind, türmen sich vor Anja auf. Sie hat keine freie Sicht, wo sie ihren Wagen hinschiebt. Anja hört den Kommentar einer Männerstimme. Irgendetwas passiert: sie verheddert sich, bleibt hängen – was es genau ist, spielt keine Rolle, das Ergebnis ist dasselbe: Anja fällt. Ob Anja nun am Zürich Flughafen um gheit oder nach dem zweiten Catcalling dieses Tages dure gheit – Kontrollverlust stellt sich bei beidem ein, auch wenn nur bei einem mit Schürfwunden gerechnet werden muss.

Der Zürich Flughafen ist ein öffentlicher Ort und im Gegensatz zu Anjas eigenen vier Wänden werden sich nach dem Kontrollverlust an diesem belebten Ort schnell Schamgefühle einstellen. Dabei spielt es keine Rolle, ob Handy, Schlüssel und Tampon vom Boden aufgelesen und die Haare wieder gerichtet werden müssen oder ob nach einer wutentbrannten Tirade gegen das Patriarchat und den omnipräsenten Sexismus in unserer Lebenswelt in irritierte Gesichter geblickt wird. Gheiä und der damit verbundene Kontrollverlust hat im öffentlichen Raum nichts zu suchen. Er darf keine Zuschauer*innen haben und höchstens heimlich, privat in den eigenen vier Wänden, niemals aber unter den beobachtenden Blicken der Gesellschaft passieren.

Doch was ist es, das uns nach dem gheiä vor Scham erröten lässt? Ist es die Demonstration von körperlichem Ungeschick? Dass der eigene Körper und die eigenen Besitztümer vor allen Augen auf dem Boden ausgebreitet sind? Ist es, dass wir nach dem Fall für einen Moment in einer liegenden Position verharren, obwohl der Flughafen ein Ort ist, an dem mensch nur aufrecht, maximal sitzend vorkommen darf? Sind das eigene Handy, der Hausschlüssel mit dem flauschigen Anhänger und die Tampons so privat, dass keine anderen Augen einen Blick darauf werfen dürfen? Darf niemand wissen, dass Anja per Handy erreichbar ist, in einer Wohnung lebt, die sie ab- und aufschliessen kann und während ihrer Periode die orangefarbigen Tampons der Marke O.B. benutzt? Wären eine andere Telefon- oder Tampon-Marke weniger beschämend? Oder ist der Fakt, dass Anja menstruiert, der eigentlich schämenswerte Grund?

Der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, sorgt hier im Flughafen für eine Überschwemmung und mit nassen Knöcheln gheit Anja dure. All das Unrecht, die Frustration, die Wut und den Schmerz dieses Augenblicks lässt sie raus. Wenn Anja erschöpft wieder zu Atem kommt und sieht, wie sich die Menschen in der Halle mit ihren The North Face Taschen und Nackenkissen aktiv von ihr wegdrehen, dann wird sich Scham über sie legen. Ist es verwerflich, dereigenen Meinung, dem eigenen Standpunkt, den eigenen Emotionen und Empfindungen Raum zu verschaffen – sogar unabhängig davon, ob es berechtigt erscheint oder nicht? Hat es in dieser grossen Halle nicht genügend Raum für alle Gefühle? Darf mensch nur in den eigenen vier Wänden, ohne andere Personen in Hör- und Sichtweite dure gheiä? Ist der Fakt, dass Anja fühlt – und dies sogar mit solcher Leidenschaft und Inbrunst, dass sie es nicht zurückhalten kann – etwas Schämenswertes? Darf der Mensch nur bei sich zuhause fühlen, schreien, irrational sein, am Boden liegen und menstruieren?

Wollen wir nicht alle gemeinsam um gheiä und dure gheiä und die Freiheit und den Kontrollverlust des Fallens geniessen – obwohl der Aufprall kommen wird – und dies für einmal, ohne uns zu schämen? Anja würde das gefallen.