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Aina Aliotta

Anatomie des Einhorns

Das Bühnenbild erinnert an ein Kinderzimmer. Links auf der Bühne liegen ein aufblasbarer rosa Einhorn-Schwimmring, ein kleiner gelber Koffer, weisse Sneakers, eine blaue Jeans, ein Einhorn-Ballon und eine Einhorn-Maske. Zu den vier Einhörnern auf dem Boden und dem Tisch kommt ein fünftes auf dem T-Shirt der Künstlerin. Darunter steht «I am awesome therefore I am unicorn». Sie legt sich eine Ballon Luftpumpe an ihre Stirn und pumpt in alle Richtungen: Links, rechts, unten, oben – die Augen weit geöffnet.

Die queerfeministische Sprach- und Performancekünstlerin Martha Luisa Hernández Cadenas gewährt am Zürcher Theater Spektakel in der Roten Fabrik einen Einblick in ihre Lebensrealität in La Habana, Kuba. Sie zeigt im Rahmen des Short Piece Programms eine Performance mit Auszügen ihrer intimen Videoarbeit über das Einhorn-Dasein. «Ich bin kein Einhorn, keine magische Kreatur, ich bin ein Mensch», sagt eine Stimme aus dem Off.

Laut atmend zieht die Künstlerin nach dem Pumpen das T-Shirt aus. Im Hintergrund sind die zerstörten Strassen Kubas zu sehen; Strassenessen, Schweine über dem Feuer, tanzende Menschen, noch mehr Tiere auf dem Grill. Dazu läuft die Filmmusik von «Das letzte Einhorn» aus dem Jahre 1982. Halb Mensch, halb Einhorn: während Martha Luisa Hernández Cadenas im Video durch die Strassen Kubas wandert, breitet die Künstlerin auf der Bühne den Kofferinhalt auf dem Tisch aus. Spielzeugfiguren, Ballone, Zeichnungen, Fotos: Alles Einhörner.

Im Video liegt ein Einhorn leblos am Strassenrand. Umstehende Kinder schauen, rufen und lachen es aus. Sie fassen es in den Mund. Der Höhepunkt der Interaktion erinnert an die unzähligen Erniedrigungen und Übergriffe, die queere Menschen in der Öffentlichkeit weltweit erleiden müssen. «Ist es ein Mann oder eine Frau?» Die Frage der Kinder beantwortet die Künstlerin im Video selbst: Es ist ein Einhorn-Körper. Körper, Horn, Uterus, Klitoris. Das Horn, welches den Widerstand symbolisiert, wird von den Kindern bestaunt, ausgelacht, angefasst. Man sieht einen Einblender: «festividad de las diferencias». Die Künstlerin auf der Bühne schlägt sich auf den Körper und lacht. Im Publikum ist niemandem zum Lachen. Ihre Sprache ist geprägt von Superlativen, Metaphern und Vergleichen. Sie tanzt zu lautem EDM – elektronische Tanzmusik – und dreht sich im Kreis, bis ihr die Einhorn-Maske abfällt. Zum Schluss umarmt sie den Schwimmring im violetten Scheinwerferlicht. Die Szene erinnert an ein Kind, das sich mit den Spielzeugen sicherer und wohler fühlt. Sie steigt in den Schwimmring und rappt, dichtet, singt, schreit laut ins Mikrofon.

Der Text, die Strassenaufnahmen mit wackeliger Handkamera, das Einhornsymbol im Überfluss – das ist alles ein bisschen viel auf einmal. Die Botschaft ist klar: Das Leben als Einhorn ist anstrengend und einsam. Angst, Zensur und Gewalt gehören für queere Menschen auch in Kuba zum Alltag. Martha Luisa Hernández Cadenas nennt es in ihrem Short Piece «The privilege of having nothing». Die Performance entstand 2019 zur Zeit der Pandemie, als die Künstlerin nach eigener Aussage endlich Ruhe und Kraft fand, sich mit der konstanten Unsicherheit und Gefahr auseinanderzusetzen, die für ihre Community längst normal geworden sind.

Die Performance ist Selbstverwirklichung, Fluchtversuch, Hilferuf und Anschuldigung zugleich: Ausdruck der Wut auf den kubanischen Staat, die Machos und die Ungerechtigkeit der Welt. Die englischen Übersetzungen werden der Ausdruckskraft, Originalität und Poesie der spanischen Worte nicht gerecht. Doch um die Frustration und Wut der Künstlerin zu verstehen, sind keine Spanischkenntnisse nötig. Sie liefert in ihrer Performance ein ehrliches Zeitzeugnis einer starken Frau. Sie lädt uns Zuschauende ins Einhornrefugium ein, ein Ort, an dem alle Einhörner sicher sein können. Denn Kuba ist es für sie und ihre Freund:innen nicht.

 

Die Videoarbeit «No soy Unicornio» wurde für den diesjährigen ZKB Anerkennungspreis nominiert. Als Teil einer Performance im Short Piece Programm ist das Werk am Zürcher Theater Spektakel 2022 zum ersten Mal in der Schweiz zu sehen.

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