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Der Balken in meinem Auge

Am Rande der Imperien: Interview zu «Queen Zomia» mit Royce Ng

DAMIAN CHRISTINGER: Dein Stück Queen Zomia wird am Theaterspektakel gezeigt, dem Ort, wo du vor drei Jahren bereits Kishi the Vampire zur Aufführung brachtest. Beide Stücke sind Teil einer geplanten Trilogie, die du als Opium Museum bezeichnest. Wer oder was ist Zomia?

ROYCE NG: Zomia ist ein anarchistischer Staat im Hochland Südostasiens, der sich über das Territorium von mehreren Staaten erstreckt, nämlich von Thailand, China, Laos, Myanmar und Bangladesch. Bevölkert wird er von verschiedenen hill tribes, die aus dem Reis produzierenden Flachland dort eingesickert, eingewandert sind. Zomia einen Staat zu nennen, ist natürlich falsch, obwohl man es vielleicht als einen Zustand des Bewusstseins (state of the mind) bezeichnen könnte. Der Name wurde zuerst durch den holländischen Geografen Willem van Schendel geprägt, der ihn vom Begriff Zomi, aus dem Burmesisch-Tibetischen für Hochlandbewohner, ableitete. Für ihn beschreibt Zomia eine Gemeinsamkeit kultureller Praktiken, der auf der Höhenlage beruht und ganz verschiedene Menschen und Sprachgruppen verbindet. Der anarchistische Geograf James C. Scott führte das Konzept Zomia weiter aus, indem er argumentierte, dass die kulturellen Praxen der Miao, der Wa, der Lahu, der Akha und der Shan – um nur einige zu nennen – also etwa das Nomadentum, das Leben in den Bergen, der Brandrodungsackerbau und das Fehlen einer Schriftlichkeit als kontinuierlicher Widerstand gegen jede Form von klassisch verstandener Staatlichkeit interpretiert werden können.

Ein Anti-Europa-der-Nationen im Bergwald Südostasiens?

Scott und Ernest Gellner bezeichnen in ihrem Buch The Art of Not Being Governed Zomia als «Schweiz ohne Kuckucksuhren», als ein Bergkönigreich, das zwischen mächtigen Nationen liegt, und das sich einen starken Rest an Anarchismus bewahrt hat. In diesem Sinne: Ja!

Was soll ich mir unter dem Opium Museum vorstellen?

Das Opium Museum ist eine Performance-Trilogie, die ich seit 2016 entwickle. Sie untersucht den Einfluss des Opiums auf den modernen asiatischen Nationalstaat. Jedes Kapitel der Trilogie untersucht einen spezifischen Zusammenhang. Der erste Teil Kishi the Vampire fokussierte auf das japanische Opium-Monopol in der de facto Kolonie Manchuko, im Nordosten Chinas in den 1930er und 40er Jahren. Im Mittelpunkt stand der japanische Bürokrat Nobosuke Kishi, der den staatlichen Opiumhandel wesentlich prägte. Das zweite Kapitel Queen Zomia thematisiert die Ursprünge des Goldenen Dreiecks und den Einfluss der USA auf den globalen Opiumhandel. Im Mittelpunkt steht der transsexuelle Opiumwarlord Olive Yang, die den Shan-Staat in Nordost Burma kontrollierte. Das letzte Kapitel wird dann Hong Kong gewidmet sein, dem ersten und ultimativen Opiumimperium.

Wie stark wirken diese abgelagerten Schichten der Kolonialgeschichte aus deiner Sicht in der Gegenwart nach?

Die zwei bekannten Opiumkriege des 19. Jahrhunderts reichen bis in die Gegenwart hinein. Die Trilogie enthält einen dritten Opiumkrieg zwischen dem Thai-Militär und ethnischen Freiheitsbewegungen an der Thailand-Burma Grenze. Beide Seiten profitierten übrigens vom Opiumhandel, der sich später zum Heroinhandel wandelte. Als der kalte Krieg zur Intervention der USA in Vietnam führte, gelangte das Heroin vermehrt in die USA, es etablierte sich eine direkte Achse Zomia-Harlem. Als Reaktion darauf initiierte Richard Nixon den berühmten «War on Drugs», den man als dezentralisierten vierten Opiumkrieg bezeichnen könnte. Dieser tobt heute noch, sichtbar in der verfehlten Drogenpolitik vieler Länder und dem Erstarken der Kartelle in Lateinamerika und Afghanistan. Für mich als Sohn von kolonialen Subjekten aus Hong Kong und Mozambique, der selbst in Australien – auch einer ehemaligen Britischen Kolonie – aufwuchs, ist das Postkoloniale gleichsam in meine Existenz eingewoben, wobei ich das Präfix «post» eher als Kontinuum denn als Ende des Kolonialismus lese.

Lebst du mit deiner Familie immer noch auf Lantau in Hong Kong, und warum seid ihr da hingezogen?

Wir leben da seit sechs Jahren. Im Schatten eines Berges, in einem Tal, wo Wasserbüffel und wilde Kühe grasen, fünf Minuten vom tropischen Strand entfernt. Mit dem Fahrrad fahren wir in zehn Minuten zur Fährstation und eine halbe Stunde später sind wir in einer der aufregendsten Städte der Welt. Die Frage müsste also eher lauten, wieso jemand da nicht hinziehen möchte.

Ein Paradies?

Lantau hat eine interessante Geschichte. Der letzte Herrscher der südlichen Song-Dynastie, der Knabenkaiser Zhao Bing, wurde von den marodierenden Jurchen-Nomaden, die aus dem Norden ins Reich eindrangen, vertrieben. Er gründete sein neues Reich in Mui Wo, jenem Dorf, in dem wir heute leben. Später dann war es das Piratennest, von dem aus die Freibeuterin Madame Qing, die von Jorge Luis Borges verewigt wurde, operierte. Während des pazifischen Krieges war das Dorf von japanischen Soldaten besetzt, die an jenem Strand, an dem wir baden, die Dorfbewohner*innen in einer Massenexekution durch Köpfen umbrachten. Nach dem Krieg wurden sie dann selbst an demselben Strand erschossen.

Viel Geschichte. Auch deine Trilogie untersucht die Vergangenheit. Wäre es nicht wichtiger, sich um das Heute in Hong Kong zu kümmern, wo gerade ganz Entscheidendes geschieht?

Geschichte ist eben nicht nur die Ablagerung in Schichten, wie du das bezeichnest, die dann als Fundament für das Heute dienen. Geschichte ist vieles gleichzeitig, sie ist ein vielstimmiger Chor, der zu uns spricht. Wenn die jungen Protestierenden heute amerikanische Flaggen in die Kameras halten, um gegen den wachsenden Einfluss von Festlandchina in Hong Kong zu protestieren, dann ärgert das nicht nur die Machthaber in Peking, sondern auch ihre Eltern, die ihr Leben lang gegen das Kolonialsystem waren. Die heutigen Machthaber in Hong Kong waren in ihrer Jugend selbst Teil von gewaltigen und gewalttätigen Protestbewegungen in den 1960er Jahren – damals einfach gegen die Briten und die koloniale Verwaltung. Die Protestierenden sind in der Mehrzahl sehr, sehr jung. Es ist auch ein Aufstand der Jugend, viele von ihnen waren gerade mal 15 oder 16, als sich die Regenschirmbewegung 2014 formierte.

Worum geht es diesen jungen Hong Kong-Chines*innen?

Auch das ist nicht eindeutig. Zuerst einmal um Autonomie und Selbstbestimmung – ähnlich wie bei den Shan oder Wa – um die Selbstbehauptung gegenüber einem als zu dominant und vereinnahmend empfundenen, übermächtigen Nachbarn. Einige fordern ein unabhängiges Hong Kong – eine seltsame Idee, wie andere sofort entgegenhalten – da wir zu klein sind, um so viele Menschen zu ernähren. Bei den meisten spielt das diffuse Gefühl eine Rolle, abgehängt zu werden, unbedeutend zu werden, bloss ein Teil eines rieseigen Wirtschaftsgebietes, ein Vorort von Shenzhen zu sein. Es wird ein kulturelles Nationalgefühl beschworen, das es nicht gibt. Einige der Protestierenden gebären sich extrem fremdenfeindlich, sprechen von den Festland-Chines*innen als Heuschrecken, auch von jenen, die seit Generationen hier leben. Viele richten ihre Wut gegen den anonymen und anonymisierenden Überwachungsstaat, gegen ein Gefühl der Ohnmacht. Einigen geht es um Demokratie.

Mir scheint, dass sich auch die klassischen Fronten auflösen. Die Triaden, die lange als Kämpfer gegen die Kommunisten galten, und von dieser Romantisierung auch profitierten, lassen sich plötzlich instrumentalisieren und gehen gegen Demonstrant*innen vor.

Ja, aber nur in bestimmten Bezirken. Auch hier herrscht keine Eindeutigkeit, vieles passiert im Verborgenen, alte Rechnungen werden beglichen, neue Einflusszonen abgesteckt. Die Wege des Opiums haben längst neue Allianzen geschaffen. Die alten Kämpfer*innen, die sich gegen Mao in den Shan-Bergen verschanzten, sind schon lange tot.

In den westlichen Medien herrscht aber das Bild vor, dass sich die Hong Konger diszipliniert formieren, geschickt über soziale Medien organisieren und so eine echte Gefahr für die Machthaber in Peking darstellen.

Das ist natürlich Teil der Wahrheit. Wenn wir demonstrieren, eint uns auch ein Gefühl für die Wichtigkeit des Moments. Dieses Pathos scheint auch notwendig, um sich gegen Wasserwerfer und Tränengas zu stellen. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich viele Anführer*innen der Regenschirmbewegung noch immer in Haft befinden. Einige der Buchhändler*innen, die chinakritische Bücher verlegten und plötzlich verschwanden, also entführt wurden, sind noch immer nicht aufgetaucht. Das gemeinsame Pathos hilft, die Choreographie der Proteste ist notwendig, um die Kakophonie der verschiedenen Stimmen, Meinungen und Motivationen in eine Bewegung zu richten, sie zu einen. Die Proteste sind dadurch aber auch Theater und Spektakel – bitte entschuldige das Wortspiel – was aber auch allen bewusst ist. In vielen von uns formiert sich aber auch der Verdacht, dass es sich um ein Puppenspiel handeln könnte. Es ist nur nicht ganz klar, wer oder was die Puppen führt.

Es gibt in deinem Stück auch die Durchdringung von Realität und Virtualität.

Das Opium Museum verstehe ich in dieser Hinsicht als forschende Bewegung, die sich auch mit der Realität zwischen dem virtuellen Raum und der Strasse, dem Lebensraum der Protestierenden auseinandersetzt. Ich glaube, das sich die Berichterstattung über die Proteste zu wenig mit diesem Aspekt beschäftigt. Virtualität, künstliche Intelligenz, soziale Medien und Überwachung als Kontrolle entwickeln sich in China gerade zu einem Alptraum, der auch den Westen betrifft. Die psychedelischen Aspekte von Queen Zomia skizzieren in diesem Punkt einen Gegenentwurf.

Der alte Traum der Hippies, dass Drogen die Welt verändern?

Nun, Opium hat zumindest lokal die Machtstrukturen verändert, während es sie global verfestigte. Das Potenzial von LSD zum Beispiel ist ein anderes: Radikale Individualität, die als Erlebnis die Menschen verbindet. Keine Choreographie, sondern dezidierte Vielstimmigkeit, Selbsterkenntnis nicht nur als Ziel sondern als Ausgangspunkt von etwas Neuem. Ich fange aber erst gerade an, mich damit auseinander zu setzen.

William Gibson hat bereits 1984 auf diese Zusammenhänge hingewiesen.

Hong Kong hat die Fiktionen von Neuromancer wohl schon längst überholt. Was gerade im Cyberspace um die Proteste herum passiert, sprengt alles bisher Dagewesene. Bestimmte Aspekte dieser diffusen Bewegung, die sich auf den Strassen formiert, lassen sich nicht nur fiktional besser verstehen als real, sie vervielfältigen sich auch virtuell. Das chinesische Militär mag sich pro forma an den Grenzen zu Hong Kong in Stellung bringen, im virtuellen Raum sind sie bereits vollständig eingedrungen. Die Kakophonie des Widerstandes wird hier nochmals verstärkt und als Waffe im Kampf in Richtung Undifferenzierbarkeit und Unidentifizierbarkeit gesteigert.

Royce Ng ist Künstler und Theatermacher. Zusammen mit seiner Frau Daisy Bisenieks, einer Ethnologin, ist er Teil des Künstlerduos Zheng Maler, das mit ausserordentlichen künstlerischen Forschungsarbeiten, wie «A Season in Shell» im Johann Jacobs Museum in Zürich auf sich aufmerksam machte. «Queen Zomia» ist der zweite Teil einer geplanten Trilogie, die sich mit der Geschichte des Opiumhandels und seiner Bedeutung für den Kolonialismus auseinandersetzt.

Das Interview wurde von Damian Christinger in zwei Teilen am 23. und 27. August 2019 auf den Wiesen des Theater Spektakels geführt.