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Oana Popa

Alles ist gut

Ein feucht-tröstlicher Monolog
aus der Demenzabteilung

Personen:

die Krankenschwester

die Toten

 

Die Krankenschwester befindet sich in einem hellen Raum, in der Mitte steht ein kleiner Holztisch, darauf eine Vase, daneben steht ein Stuhl. Halb bedeckt von einem schwarzen Tuch liegen menschliche Körper auf einer Seite der Bühne. Die Krankenschwester geht unentwegt hin und her, setzt sich hin und wieder, bevor sie erneut aufsteht, um ihren Rundgang durch den Raum fortzusetzen. Sie trägt Schuhe mit schlankem Absatz, eine schwarze Strumpfhose, einen schwarzen Midi-Bleistiftrock, darin ein Spitalhemd eingesteckt. Ihr Telefon klingelt ununterbrochen. Sie ignoriert das Läuten. Irgendwann setzt sie sich auf den Holzstuhl und schaut aufs Telefon.

Die Krankenschwester: Was ist denn? Zimmer 118, Frau Schmid… Ah, sie muss gegangen sein (sie seufzt und ahmt das Anzünden einer Kerze nach). Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man nicht durch den Tod verlieren. Ist von Johann Wolfgang von Goethe.

Nach dem Tod kommt nichts, es ist dann schwarz, leer. So wie bevor man geboren wurde. Das sagt Harald immer, mein Arbeitskollege. Er und die anderen meinen auch, Herr Reimann hätte keine Lebensqualität mehr. Als er erkältet war, riet man seinem Sohn, von kurativer auf palliative Behandlung zu wechseln. Lasst den armen Mann sterben! Angefangen hat’s, als er das Kauen zu verlernen begann. Jetzt besteht seine Nahrung nur noch aus Brei, eine Mitarbeitende muss ihn ihm eingeben. «Ah, der arme Herr Reimann!», sagen wir, wenn wir überhaupt Zeit haben, etwas zu sagen. «Na und, was ist schon dabei, wenn er um drei Uhr nachmittags Pyjamas trägt? Schliesslich ist dieser Ort sein Daheim. Aber nicht am Sonntag. Man weiss, dass an diesem Tag seine Angehörigen kommen. Er soll doch noch eine gewisse Würde ausstrahlen!», meint Harald. «Kommen Sie mit, Herr Reimann, Ihre Frau kommt, kommen Sie, ja, genau, gut machen Sie das!» Wir nehmen dann die schlaffe Hand in die unsere und ziehen am rechten Unterarm. (Die Krankenschwester tut so, als zöge sie an einem schweren Gegenstand.) Wir hoffen, er steht zügig auf und es muss keine zweite Person zur Unterstützung geholt werden. Harald schafft’s allein und er setzt den Standard.

Herr Reimann war schon immer beliebt unter den Pflegenden. Als sein Stadium noch nicht fortgeschritten war, kannte er sogar gewisse Namen. Mittlerweile scheint sich das Leben des ehemaligen Lehrers mit jedem Tag mehr zu verdunsten:  am Esstisch, auf den Sofas, beim Aktivierungsprogramm. Auf der Station wird mittlerweile mit Vehemenz behauptet, er wolle gehen und fertig. Also dorthin gehen, wo man war, bevor man geboren wurde. Man munkelt, die Leute von oben (zeigt mit dem Finger aufwärts) wollen ihn nur noch am Leben erhalten, damit sie an seinen Medikamenten Geld verdienen.  Herr Reimann weiss nicht mal, dass er Krebs hat! Es gehen viele Theorien rum. Die verbinden oder spalten die Pflegenden. Worüber wir uns einig sind, ist, dass die Chefs keinen Plan von unserer Arbeit haben. Wenn Herr Reimann nicht schläft, wird er unruhig und möchte aufstehen. Die Gefahr ist zwar gross, beim Aufstehen zu stürzen, aber wir dürfen es ihm nicht verbieten. Alles, was wir noch machen können, ist, ihn mit der Hilfe von kinästhetischem Fachwissen zu stützen, worüber etwa 35 Prozent unserer Mitarbeiterinnen verfügen. Die anderen machen ihren Rücken kaputt.

(Die Krankenschwester steht auf und betrachtet die Toten, das Telefon läutet wieder. Sie guckt auf das Display und nickt, steckt das Telefon ein und betrachtet wieder die Toten) Frau Schmid… Es ging unglaublich schnell; also, sie wollte jedenfalls gehen, es war eine klare Sache. Ihre Tochter war die ganze Zeit bei ihr in der Terminalphase. Ob sie wohl noch in der Lage war, zu erkennen, wer anwesend war? Vor der Terminalphase hatte sie noch gemeint, ihre erwachsene Tochter sei ein kleines Kind. Ich musste mehrmals täglich die Tränen unterdrücken, wenn mich Frau Schmid bat, ihre Handtasche zu suchen, damit sie sich für den Heimweg vorbereiten konnte. Für solche Angelegenheiten war wenig Zeit vorgesehen.

Als die Terminalphase begann und Frau Schmid bettlägerig wurde, machten wir nur noch das Nötigste. Viel war schliesslich nicht mehr zu tun, ihr Mund wurde mit einem in Bier getränkten Wattestäbchen befeuchtet und Morphium wurde nachgereicht. Die Ausscheidungen wurden von den Einlagen absorbiert und von uns Pflegenden entsorgt.

Die Sterbephase soll von uns erkannt werden. 1.0.1 für die Sterbephase, Palliative Care. Name: Schmid. Vorname: Beim Vornamen darf man sie nicht nennen. Im interdisziplinären Austausch wurde festgestellt, dass die Patientin in die Terminalphase eingetreten ist. Check. Zusätzlich entsprechen zwei der folgenden Kriterien dem Zustand der Patientin. Ist bettlägerig? Check. Kann Flüssigkeit nur noch in kleinen Schlucken zu sich nehmen? Check. Kann keine Tabletten mehr schlucken? Check. Ist somnolent, komatös, soporös? Check, check, check.

Und dann:

Symptomerfassung in der Sterbephase. Soll mit X für Symptom ist vorhanden ausgefüllt werden. Oder! Kreis für Symptom ist nicht vorhanden ODER Fragezeichen für «unklar». Und dann kommt’s (spricht sehr schnell): Angstzustände, , Müdigkeit, Schluckt nicht, Trockener Mund, Obstipation, Diarrhö, Erbrechen, Blasenkatheter, bronchiale Sekretion, Husten, Agitation, Verwirrtheit, Einsinken der Augen- und Wangenpartie, flache Atmung, Rasseln der Lunge, Bildung dunkler Flecken auf der Haut, weitere?

In den letzten Tagen liefen die meisten von uns ein paar Minuten vor Feierabend noch schnell rein. Wir erkundigten uns, ob es der Tochter noch gut gehe. Die wenigsten gaben zu, für sich selbst vorbeizuschauen. Man hat keine Zeit jedes Sterben zu emotionalisieren.

Beim nächsten Dienst werde ich das Personalblatt picobello ausfüllen: den Namen, das Geburts- und Todesdatum. (mit gelangweilter Stimme) Was man ewig in seinem Herzen besitzt…kann man nicht… Wolfgang… Goethe…

Viele erleichtern sie sich ein letztes Mal vor dem Tod. Wir schrecken vor Exkrementen nicht zurück. Stuhlgang flüssig. Klümpchen mit unregelmässigem Rand. Pechstuhl. Jeder Stuhlgang wird ins System eingetragen. Wenn’s unangenehm riecht, setzen wir unsere trainierte Nase ein, um herauszufinden, von welchem Patienten der Geruch kommt. Harald schaut zu mir rüber und ich gucke zu ihm, wir wetten. Kommt‘s echt von Herrn Soundso? Nein, ich denke Frau Soundso. Wir seufzen, gehen dann allein oder zu zweit und sagen: Kommen Sie mit, Herr/ Frau Soundso. Der Verlierer nimmt die Person an die Hand und führt sie in ihr Zimmer. (Macht eine Handbewegung, als würde sie eine Person an der Hand nehmen und mit sich führen. Schaut wieder zu den Toten.)

Da war mal Frau Scholz auf unserer Abteilung. (bekreuzigt sich und imitiert das Anzünden einer Kerze) Die ehemalige Nonne hatte eine Darmstörung, die ihr täglich einen unangenehm riechenden Durchfall verursachte, welchen sie selbst gar nicht bemerkte. In ihrem Kopf war sie an einem besseren Ort. Sie konnte nicht nachvollziehen, warum wir ihre Hose runterziehen wollten, nachdem wir sie in die Toilette geführt hatten. Wir versuchten sie zu versöhnen, alles gut, Frau Scholz, wir wollen nur ihre Einlage wechseln. Jedes Mal dasselbe, nichts half, sie wehrte sich mit der ganzen verbliebenen Kraft ihres 97-jährigen Körpers.

An guten Tagen waren wir genügend Pflegende, um uns zu zweit um sie zu kümmern. Eine Person mobilisierte Frau Scholz, eine weitere wusch sie sauber. Man wusch und wusch, zeigte ihr das vom Stuhlgang getränkte Tuch: Sehen Sie! Schauen Sie doch! Wir wollen Ihnen nur helfen! Es war eine verzweifelte Stimmung allerseits.

An den schlechten Tagen musste man die Arbeit allein machen.  Während man der zerbrechlichen Frau mit dem Hosenbund in den Kniekehlen nachlief, machte sich eine grosse Palette von Gefühlen breit. Schweisstreibend musste sie gepackt und danach im Griff gepflegt werden. Das passierte uns allen! Drücken konnten wir uns nur, indem wir so taten, als würden wir nichts riechen. Aber so konnten wir die arme Frau doch nicht so rumlaufen lassen!

(Die Krankenschwester richtet den Kopf von einem Toten, sie setzt sich zu ihnen.) Ich komme immer zur gleichen Zeit zur Arbeit, unabhängig davon, welchen Dienst ich habe. Es ist die gleiche Jahreszeit jeden Tag. Die Patientinnen leben in einem Vakuum von Zeit und Raum, jede in einem anderen. Die Erinnerungen des Vortages haben sich verflüssigt. Zäh schweben sie in diesem Vakuum, nicht greifbar, Kondensationstropfen. In diesem Vakuum ist das Waschen der Genitalien ein Hauptteil unserer Arbeit: bei Vulven von vorne nach hinten, bei Penissen zieht man die Vorhaut zurück und putzt die Eichel mit Wasser. Ohne Seife. Und gut abtrocknen! Vor allem die Hautfalten! Der Penis soll immer nach unten orientiert sein, damit sie sich nicht in die Hose urinieren. (Das Telefon läutet wieder. Die Krankenschwester lässt sich nicht davon stören.) Die physiologischen Bedürfnisse sind der Grundstein der Pyramide.

Kurz nach sieben sollte ich mit der Pflege anfangen, da sind die wenigsten schon wach. In diesen Momenten schlafen sie, wie alle Menschen schlafen; und weil sie das Schlafen nicht verlernt haben, hoffe ich manchmal, dass sie aufwachen und ich sie gesund vorfinde. Sie sind besser anzusprechen, wenn sie von selbst aufwachen. Ich mache die Storen in allen Zimmern hoch und wandere auf den Fluren des Heims von Zimmer zu Zimmer (imitiert das Aufmachen eines Schranks, holt Sachen daraus), bereite die Tücher vor, mache mehrere Durchgänge, bis jemand aufwacht. Ich zeige mich sehr beschäftigt. (flüstert) Nicht, dass die anderen meinen, ich würde nichts machen.

Herr Bertschinger wird meistens als erster wach. Ich grüsse ihn in seiner Muttersprache, das mag er. Bun di, Herr Bertschinger. Oft spreche ich dann übers Wetter und mache Sprüche wie: Der April macht, was er will! Ich bitte ihn, langsam aufzustehen und bei jeder Bewegung lobe ich ihn, als würde ich ein Kind loben, das erste Schritte macht. Er antwortet meistens mit einem Nicken. Super machen Sie das, ja, setzen Sie sich hierhin. Ich deute auf das WC und ziehe die Latex Einweghandschuhe an. Herr Bertschinger uriniert meistens halb daneben. Ich tue so, als wäre nichts passiert und wische es schnell auf.

Die Pflege geht folgendermassen: (überlegt eine Weile, ist sichtlich verzweifelt, zieht die Schuhe aus, rennt von einer Seite der Bühne zur anderen, spricht schneller) zuerst sollte man die Person fragen, ob sie Hilfe zur Pflege benötigt. Die Patientinnen sagen sowieso immer nein, daher tauchen hier schon erste Probleme auf. Und dann… dann… also dann… (hält an, atmet tief ein, dann rennt sie wieder umher) In diesem Fall muss man nach den Unterlagen suchen.

(Rennt auf der Bühne umher. Die Klingelmatten fangen an zu läuten.)
ZU SPÄT. JETZT SIND ALLE WACH. Ticktackticktack. Wir sind alle sehr beschäftigt! Ticktackticktack. Ich brauche noch den Rest des Deos auf, einen neuen gibt’s nicht, die Patient:innen bewegen sich sowieso nicht mehr, schwitzen kaum. Schwitzen tu nur ich. Aber man spart, wo man kann. «Sei wie die Sonne: Steh morgens auf und strahle, egal welches Wetter gestern war.» Ticktackticktack. Ah, die Zigarette in der Pause. Fabelhaft. Ticktackticktack. (imitiert, wie sie eine Zigarette raucht, rennt weiter)

Nach dem Frühstück möchte ich Herr Bertschinger wieder zurück ins Zimmer begleiten, ich habe seine Kompressionsstrümpfe vergessen. Er wird wütend, so könne man in dieser Bank nicht arbeiten. Ich solle ihn bitte zum Ausgang begleiten. So viel habe er für diese Bank gemacht und das sei der Dank dafür. Mit seinem Rollator voraus sucht Herr Bertschinger den Ausgang. (Die Krankenschwester rennt auf der Bühne umher, sucht den Ausgang, wird zunehmend besorgt und verzweifelt. Sie kriecht auf allen Vieren um die Toten, hebt das schwarze Tuch auf und legt sich bis zum Hals darunter. Sucht unter dem Tuch weiter.) Und er sucht und sucht und sucht. Ich will Ihnen doch nur helfen, Herr Bertschinger, unsere Haltung ist schliesslich Personen-zentriert! (Macht eine Pause, atmet schnell, schaut ins Publikum)

Herr Bertschinger? Wo sind Sie denn? Warte mal, Herr Bertschinger ist noch in der Bank? Und ich bin hier? Bin ich hier, hier – wie hier in meinem Kopf oder arbeite ich tatsächlich noch hier? Wo ist dieser verdammte Ausgang? Und was ist das, trage ich etwa eine Einlage? (Steht auf und kontrolliert ihre Einlage) Nein, nein, nein. Wo ist der Ausgang? (geht in die Hocke, verschränkt sich die Arme über den Kopf) Wenn ich den Ausgang finde, dann weiss ich, ich kann jederzeit gehen. Meine Chefin wird’s verstehen, ich hole mir dann ein Arztzeugnis.  Ich bin so müde, ich denke, ich bin krank. Ich schwitze so sehr, dass ich das Gefühl habe, ich verdunste gleich. Meine Einlage ist nass! Kann mir da jemand helfen? Hallo? Ich habe nicht so viel Zeit, ich denke ich muss weiter! (legt sich zu den Toten, deckt sich zu und schliesst die Augen, spricht wie für sich, immer leiser) Erhöhte psychische Belastung, erhöhte physische Belastung, leicht erschwerende Umgebungseinflüsse, unregelmässige und beschränkt planbare Arbeitszeit. Alles ist gut, Herr, Frau Soundso, wir wollen Ihnen nur helfen, sie sind nass.

 

Illustration: Taddeo Lorenzo Motta