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Olivier Christe

Algerische Episoden. Zweiter Teil (1948 – 1951)

Die folgenden Episoden erzählen aus dem Leben von Maryse Peter, die 1933 in Algier in einer Familie nordafrikanischer Juden aufwuchs und mittlerweile unter einer Lärche in einem Unterwalliser Bergdorf begraben liegt. Ihr Enkel Olivier Christe ging schreibenderweise der Frage nach, wie sich eine Lebensgeschichte nacherzählen lässt, obwohl viel Zeit verstrichen ist, wichtige Protagonisten bereits verstorben sind und das Umfeld, über das er schreibt, für ihn ein fremdes ist. Die folgenden Textfragmente speisen sich aus Gesprächen des Autors mit Maryse und anderen Familienmitgliedern, tagebuchähnlichen Kochhefteinträgen sowie Fotos aus Familienalben. Zusammen mit dem Recherchematerial und einem Essay zur Thematik des erinnernden Schreibens sind sie Teil von Olivier Christes Masterarbeit, mit der er 2014 den Master Kulturpublizistik abschloss.

 

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Maryse atmet tief ein und tritt aus dem Türrahmen in den Tag. Dieser neigt sich dem Ende zu und die Hitze fliesst aus den dicken Steinmauern in die Luft zurück. Noch scheint die Sonne knapp über den Horizont. Auf der Strasse trifft sie auf ihre Freundin Gilda. An ihren Beinen hängt ein kleiner Junge in einem eleganten Jackett aus grober Baumwolle. Darunter stechen zwei nackte Beine hervor, die in weissen Socken wie abgepackte Hautstümpfe in Ledersandalen stecken. Die beiden Mädchen umarmen sich und lachen zwischen den Worten. Sie nehmen den wankenden Knaben an je einer Hand und gehen die Rue de la Lyre in die Rue d’Isly hinab. Grosse Teile des Wegs verbringt der Junge in der Luft und mustert dabei teilnahmslos die Beine der vorbeigehenden Menschen. Die Vielfalt ist gross und reicht von den sorgfältig gebügelten Baumwollhosen der Franzosen über die barfüssigen Beinenden der Araberinnen, die auf halber Höhe schlagartig in einem Wirrwarr aus weissen Tüchern verschwinden bis zu den grell glänzenden Waden der Europäerinnen. Rund einen Meter höher sieht das Ganze anders aus. Es wird weniger Haut und stattdessen das Können des hauseigenen Schneiders gezeigt. Noch einen halben Meter weiter und dem trüben Rauch der Zigaretten folgend, sind vor allem Hüte zu sehen. Kopfbedeckungen aller Art verbergen die dunklen Haare der Europäer und Europäerinnen, der Juden und Jüdinnen, der Araber und Araberinnen.

Das Lachen fliegt zwischen den beiden Mädchen hin und her. Auf beiden Strassenseiten säumen Bäume mit spriessenden Boxhandschuhen die breite Strasse. Dazwischen rollen grosse, französische Autos. Zwischen die Bäume und die Häuserzeilen drängen sich die Passanten. Maryse trägt ein knielanges Kleid, dessen Schwarz von daumendicken, weissen Streifen durchzogen ist. Um die Taille hat sie ein feines Band geknüpft. Ein abgehackter Satz, ein paar aneinandergereihte Worte genügen den beiden Mädchen um in Lachen zu versinken.

Sie gehen ans Ende der Strasse und machen an der Kreuzung zur Rue Michelet kehrt. Anschliessend gehen sie denselben Weg wieder zurück. Vor der Haustür verabschieden sie sich und Maryse steigt die vier Stockwerke in die Wohnung unter das Dach hoch. Sie geht in das Zimmer gegenüber der Küche wo ihre Mutter liegt. Vor etwa einem Jahr begannen in deren Magen ein paar neue Zellen zu wachsen. Sie wuchsen schneller als die anderen und schon bald wurde der Raum knapp. Sie wucherten in Hohlräume hinein, töteten bestehende Zellen ab um ihren Standort zu erben und breiteten sich allmählich über Leber, Galle und Darm im gesamten Unterleib aus. Der Abend ist inzwischen über die Stadt gefallen und Maryse zieht die Vorhänge zur Seite um das letzte Licht in den Raum zu lassen.

«Hast du dich amüsiert?» fragt die Mutter.

Maryse nickt und zupft ihr die Bettdecken zurecht. Sie geht in die Küche und bläst in den kleinen Kohleofen. Im Topf darüber köchelt eine rötliche Sauce. Dem Geruch von Fisch und Tomaten liegt etwas Verbranntes bei. Maryse rührt kräftig über den Topfboden, bis sie dort mit der Holzkelle das Metall wieder wahrnimmt. Sie beginnt leise zu singen und ruft durch die Küche der Mutter ein paar Worte zu.

 

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Die Anreise nach Algier erfolgte in den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts meist mit dem Schiff. Von ihm aus erblickt man zuerst die mächtigen, europäischen Häuser, die unmittelbar an die zahlreichen Hafenbecken angrenzen und dahinter, in einiger Entfernung und hoch über dem Meer thronend, die Kasbah, das arabische Viertel der Stadt. Schmale, enge Gassen durchziehen diesen schneeweisen Pilz über Algier. Fast kreisförmig umlaufen ihn der Boulevard de Verdun, der Boulevard de la Victoire, der Boulevard de Gambetta, die Rue Randon und die Rue Marengo. In letzterer wurde Maryse im Dezember 1932 geboren. Der Einfachheit halber aber lautet ihr Geburtsdatum auf den 1. Januar 1933. 16 Jahre später sitzt sie in einer Parallelstrasse zur Rue Marengo, der Rue de la Lyre, am Küchentisch und spielt mit ihrer Schwester Karten. Die beiden achten kaum auf das Spielgeschehen. Sie sprechen nicht miteinander. Die Karten fallen mechanisch auf das Holz. Die Gewinnerin legt ihren Kartengewinn auf einen Stapel und setzt zum nächsten Spielzug an. Nach der beendeten Partie legen sie die beiden Stapel wortlos aufeinander und mischen neu.

Maryse blickt Claudine an und die beiden gehen ins gegenüberliegende Zimmer. Dort liegt die Mutter halb aufgerichtet in einem Doppelbett. Oben und unten schliesst ein Brett mit dunklem Furnier die dicke Matratze ein. Die Mutter liegt trotz des warmen Frühlingstags bis in die Mitte des aufgedunsenen Unterleibs in Decken eingewickelt. Der geblähte Bauch sondert sich eigenartig vom abgemagerten Körper der zweiundfünzigjährigen Frau ab, die von der Krankheit abgenutzt daliegt. Das Leben hat sich bereits auf den engsten Kern zurückgezogen und dringt nur noch durch die tief in Höhlen gefallen Augen als sanfter Glanz nach draussen. Schweiss perlt auf der Stirn und rinnt in die beiden Falten, die sich horizontal ausbreiten. Der Haaransatz ist nass. Maryse tupft ihr den Schweiss von der Stirne und kehrt hinter Claudine in die Küche zurück. Sie nehmen die Partie wieder auf.

Es ist der 11. April des Jahres 1949. Die Tage werden länger und wärmer. Kein Arzt kam um den bevorstehenden Tod festzustellen. Er tritt nach drei weiteren Kartenspielen ein. Der Blick ist aus ihren Augen verschwunden. Sie liegt reglos da. Ihr Körper hat sich nicht entspannt und wiederspiegelt die Krämpfe der letzten Tage. Nur die Schreie sind verstummt. Die Temperatur im Zimmer ist schlagartig gesunken und vom toten Körper geht ein fauliger Gestank aus. Maryse läuft zu Madame Melisly, einer Nachbarin im Alter der Mutter und ebenfalls Jüdin, die ruhig die Treppen hinauf steigt und der Mutter mit einem Wisch die Augen schliesst. Dabei murmelt sie unverständliche Worte. Maryse sinkt in ihre Arme und erwacht in einem anderen Leben wieder.

 

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Die Wohnung im vierten Stock steht leer. Die Betten sind gemacht und die Luft im offenstehenden, lukenhaften Fenster steht still, was untypisch für die Stadt am Meer ist. In der Küche köchelt über einem kleinen Kohleofen eine rötliche Sauce. Auch hier stehen die Fenster weit offen und auch hier verkehrt der Wind nicht im Raum. Da die Wohnung aber leer steht wundert sich niemand über den Stillstand.

Zwei Etagen weiter unten herrscht ein ähnliches Bild. Die Luft ruht, aber darin finden sich zwei Frauenstimmen wieder. Eine der beiden Stimmen kratzt tief und gehört einer alten Frau mit weissen, weit ausladenden Dauerwellen. Schräg gegenüber in der Biegung des ovalen Salontisches sitzt eine junge, knapp zwanzigjährigen Frau. Vor den beiden steht je eine Tasse Kaffee und eine mit Blätterteigkrümeln bedeckte Serviette. Die junge Frau ist vor allem fein. Die zarten Finger stehen in keinem Gegensatz zu den langen, dünnen Armen und der schlanken Figur. Dieser Gegensatz findet sich jedoch in der Sprechweise. Laut lacht sie durch den Raum und wirft dabei gleichzeitig Satzenden und -anfänge in die Luft. Dabei sind noch die letzten Bissen des frittierten Brötchens in ihrem Mund zu vernehmen. Auf dieselbe, unbeschwerte Art fällt die alte Frau eine Oktave tiefer zwischen und in die Worte ihrer jungen Gesprächspartnerin ein. Der Inhalt des Gesagten kann am besten mit Gesprächsstoff umschrieben werden. Es ist die Freude am Sprechen, die die 19-jährige Maryse aus dem vierten und die 59-jährige Frau Melisly aus dem zweiten Stock fast täglich zusammenführt.

Grosse, grüne Heuschrecken stürzen in die Wohnung. Sie fliegen durch das Zimmer, landen auf dem Tisch, im Kaffee, in den Haaren und finden keinen Weg zurück. Maryse springt auf und eilt zum Fenster. Sie schliesst es und von beiden Seiten versuchen lange Beine Halt daran zu finden. Die Wiederhaken an den Beinende kratzen scharrend am Glas und suchen nach einer Öffnung die hinein oder hinaus führt. Frau Melisly läuft durch die Wohnung und beeilt sich die übrigen Fenster zu schliessen. In diesem Augenblick ist Maryse bereits im Treppenhaus und eilt die zwei Stockwerke zu ihrer Wohnung hinauf. Der Boden lebt und durch die Fenster treiben unaufhörlich weitere Tiere. Sie krallen sich in die Bettdecken und kriechen orientierungslos über den Flur. Sobald sie gelandet sind, unternehmen sie keinen weiteren Flugversuch. Im Kochtopf schwimmen zwei kräftige Exemplare und ihr madenähnlicher Hinterkörper windet sich in der dicken Rotweinsauce.

Maryse steht in der Wohnung und sammelt die Insekten mit Schaufel und Besen ein. Anschliessend wirft sie die ermatteten Tiere aus dem Fenster in die Luft, die mittlerweile wieder zur alten Ruhe zurückgefunden hat. Die Heuschreckenwinde dauern jeweils nur kurz, doch vermögen sie das Leben in der Stadt für ein paar Stunden vollständig zu bestimmen. Jeanine und Claudine kehren von der Arbeit zurück und treten in die Wohnung ein. Sie beeilen sich ihre Sachen in eine Ecke zu stellen und helfen ihrer Schwester unter lachenden Ausrufen der Entrüstung bei der Reinigung. Inzwischen dampft Maryse über dem Kochtopf in einem Sieb Couscous und schneidet in feinen Streifen Pfefferminzblätter hinein. Das Ragout mit den Heuschrecken füllt sie in einen Topf, in den später die Hafenhunde ihre spitze Schnauze graben werden.

 

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Das Zimmer der Mutter steht seit ihrem Tod leer und dient als Esszimmer. In der Wohnung leben die drei Schwestern Jeanine, Claudine und Maryse. Ihr Bruder Jos schläft hier. Die meiste Zeit aber verbringt er auf der Strasse. Er arbeitet bei einem Textilwarenhändler. Mehr ist von ihm nicht bekannt. Sein Leben und das der Geschwister kreuzen sich nur selten. Der Weg in sein Zimmer führt durch die Küche, wo sich die Blicke manchmal treffen.

 

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Es ist Spätsommer. Der einsetzende Herbst macht sich nur in den Nächten bemerkbar. Diese sind kühl und feucht, die Tage aber sind so heiss wie seit Monaten. Maryse und Claudine stehen auf der Dachterrasse und legen weisse Bettlaken über die Leinen. Diese hängen nun wie Segel inmitten der Aussicht auf das arabische Viertel, das in den Zwischenständen die Laken im selben Farbton verbindet. Im Rücken der beiden Frauen steigen mächtige Hafengebäude auf und dahinter wirft das Meer die grelle Morgensonne auf die Stadt zurück. Maryse klopft die Teppiche in den Wind. Irgendwo im Süden befindet sich zu diesem Zeitpunkt Jeanine, die dritte Schwester. In der Morgensonne lachen die beiden über die Vorstellung, welchen Unsinn Jeanine unter all den Kolonialherren mit weissen Hüten und ihren schwarzen Bediensteten wohl gerade dieser Welt verkündet. Aber sie bangen mit ihr und hoffen, dass der Korse eine gute Wahl war.

«Ein Korse, ausgerechnet ein Korse», lacht Claudine.

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Er kam vor einigen Wochen nach Algier um hier einige Geschäfte abzuwickeln, bevor er nach Kamerun weiterreiste. Da das Geld bei den drei Schwestern an allen Enden fehlt und vom Vater, der einen kleinen Lohn hat und nach dem Tod der Mutter mit einer anderen Frau ein neues Leben begonnen hatte, nur wenig hinzu kam, ist eine Heirat im jüdischen Milieu undenkbar. Die Bürde der Mitgift lastet schwer auf den dreien. Die Armut erstickt jede Liebschaft im Keim. So haben sich Maryse und Claudine für ihre um einige Jahre ältere Schwester nach einem Mann umgesehen. Ihre Schneiderin und Nachbarin wusste vom Besuch eines korsischen Junggesellen und so entstand in den Abendstunden in der Wohnung der Schneiderin ein Plan. Es folgte eine kurze Bekanntmachung und einige Wochen später war Jeanine auf einem Schiff nach Kamerun.

Seit ihrer Abreise ist nun bereits eine Woche vergangen und lachend warten die beiden auf eine Nachricht ihrer Schwester. Derweil nimmt das Leben in Algier seinen normalen Lauf. Es ist Sonntag, die Wäsche trocknet im Wind und die beiden Schwestern machen sich auf den Weg ans Meer.