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Olivier Christe

Algerische Episoden. Erster Teil (1938-1946)

Die folgenden Episoden erzählen aus dem Leben von Maryse Peter, die 1933 in Algier in einer Familie nordafrikanischer Juden aufwuchs und mittlerweile unter einer Lärche in einem Unterwalliser Bergdorf begraben liegt. Ihr Enkel Olivier Christe ging schreibenderweise der Frage nach, wie sich eine Lebensgeschichte nacherzählen lässt, obwohl viel Zeit verstrichen ist, wichtige Protagonisten bereits verstorben sind und das Umfeld, über das er schreibt, für ihn ein fremdes ist. Die folgenden Textfragmente speisen sich aus Gesprächen des Autors mit Maryse und anderen Familienmitgliedern, tagebuchähnlichen Kochhefteinträgen sowie Fotos aus Familienalben. Zusammen mit dem Recherchematerial und einem Essay zur Thematik des erinnernden Schreibens sind sie Teil von Olivier Christes Masterarbeit, mit der er 2014 den Master Kulturpublizistik abschloss.

 

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Maryse liegt im Bett und hört Schritte in der Küche. Es sind schnelle, kurze Schritte, die nur ein paar wenige Mal schlagen. Für ein paar Augenblicke herrscht Stille, dann gehen sie erneut. Sie lässt die Lider auf den Augen ruhen und wartet, bis nichts mehr zu hören ist.

Neben ihr liegt ihre Schwester Claudine. Sie teilen sich eine Matratze und überlassen der älteren Jeanine das kleine Bett unter dem Fenster. Die beiden schlafen noch. Maryse öffnet die Augen und schleicht sich leise in die Küche. Dort sitzt ihre Mutter am Tisch vor einer Tasse Kaffee. Der Dampf steigt in den kühlen Raum. Das Fenster steht offen. Die Kerze auf dem Tisch schlägt eine Bresche in die Dunkelheit und setzt die Mutter in einen spitz zulaufenden Rahmen. Sie lächelt Maryse zu, die sich neben sie auf die Bank setzt. Hastig fährt sie ihr durchs fettige Haar, das in Locken knapp die Ohren umspielt. In der Dunkelheit steigen die beiden die vier Stockwerke zur Strasse hinab und verlassen das Haus unter den Arkaden der Rue de la Lyre.

Die Stadt ist auf den Beinen. Ochsen und Pferde ziehen die schweren Marktkarren über die Pflastersteine. Aus dem dunklen Morgen schreien die Schwalben grell in die Häuserschluchten. Männer mit Melonen, Frauen mit grossen Körben. Dunkel gekleidete Juden mit weiten, schwarzen Roben und einem Kind an jeder Hand. Vor den Marktkarren gehen rauchende Araber. Unter den Melonen rauchen auch die Europäer. Trotz all dieser Menschen sind nur die Schreie aus der Luft zu hören, die sich wie eine Decke über die Strasse legen. Die Münder der Menschen öffnen und schliessen sich, doch der Klang bleibt aus. Zwischen den Karren geht Maryse an der Hand ihrer Mutter in die grosse Markthalle am Ende der Strasse. Hier schlägt alles um. Die Schwalben sind nur noch vage zu vernehmen. Stattdessen finden die Menschen zu ihrer Sprache zurück und verbreiten diese in der Halle. Hoch über ihnen thronen rostige Eisenträger, von denen Spatzen steil in die Menge hinab stechen und ihr klägliches Zwitschern in den Hall aus Wortfetzen verschiedener Sprachen einmischen. Immer wieder versuchen sie so auf dem frischen Fisch zu landen, über dem die Araber geduldig mit feinen Ruten kreisen. Von den Fischen geht ein Duft aus, der die Halle ausfüllt und die anderen Düfte – frisch geschnittene arabische Petersilie, fertig zubereitetes Couscous mit Pfefferminze, warmes Brot, Fleisch, Feigen, Früchte, Tomaten, Zitronengras – keine zwei Meter über ihre Herkunft entweichen lässt.

Algier liegt am Meer und wie in allen Städten am Wasser, bestimmt dieses das Handeln und Denken seiner Einwohner. Die Ängste und Sehnsüchte, die die Menschen zu Individuen machen, haben ihren Ursprung und ihre Fortsetzung darin. Das Wasser macht andere Menschen als die Wüste. Das Meer macht andere Menschen als der Fluss. Das Mittelmeer macht andere Menschen als der Atlantik. Maryse steht mit ihrer Mutter vor den Fischen.

Es gibt keinen schlechten Fisch, sagt die Mutter, es gibt nur teuren und billigen.

Maryse streckt ihre kleinen Hände aus und nimmt die Fischkörper entgegen, die der Händler einzeln in die Zeitungen des Vortags einwickelt. Zur gleichen Zeit spricht die Mutter in hektischem Ton auf diesen ein und verlangt einen tieferen Preis für die jämmerlichen Exemplare. Maryse legt die Zeitungspakete in eine separate Tasche und geht neben ihrer Mutter aus der Halle in den Tag, der über dem Meer gerade erst beginnt.

 

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Das Zimmer ist klein. Es haben nur gerade die beiden Betten, ein Schrank und ein kleiner Schreibtisch Platz in ihm. Auf dem hinteren Bett sitzt Jeanine und schaut aus dem kleinen Fenster in die Nacht. In der Wohnung herrscht vollkommene Dunkelheit. Es ist drei Uhr morgens in der Nacht vom 20. auf den 21. November 1942. Durch die Strassen hallen Sirenen. Die Verstärker der einzelnen Viertel sind nicht genau aufeinander abgestimmt und so setzt das Heulen von Bab el Oued in jenes der Kasbah ein und gemeinsam verirren sie sich in die Sirenen des Hafens. Mittendrin, an der Rue de la Lyre, erinnert das Ganze an die unsichtbaren Wölfe, die in den Wüstennächten zu hören sind.

Die Mutter sitzt mit Maryse und Claudine in der Küche. Jos, der Bruder der drei Schwestern, liegt hinter geschlossener Türe auf seinem Bett. Jeanine sitzt am Fenster. Sie schweigen und warten. Eine Stimme kämpft sich immer wieder durchs Radio auf dem Esstisch und heisst schliesslich die Einwohner von Algier, in ihren Kellern Schutz zu suchen. Dann verschwindet sie wieder und vermischt sich mit dem Rauschen einer anderen Stimme, die in dem unverständlichen Gemurmel aber untergeht. Die Mutter übernimmt das Wort und sagt:

«Wir lassen uns nicht im Keller begraben. Wir bleiben hier, in dieser Wohnung.»

In diesem Augenblick ruft Jeanine aus dem Schlafzimmer. Die Flugzeuge erscheinen über den Lichtern des Hafens und ein Feuerwerk aus Flugabwehrkanonen entlädt sich in die Luft. Das Flugzeug erscheint genau über ihren Köpfen und fliegt weiter zu den Militäreinrichtungen der Kasbah, wo es seine Fracht fallen lässt. Ein dumpfer Knall lässt die Mauern erschüttern. Unterdessen fliegen unaufhörlich Geschosse in die Richtung des Flugzeugs, doch wie durch ein Wunder verschwindet es über dem Meer und Ruhe legt sich über die Stadt.

Maryse, die sich zu Jeanine ans Fenster gepresst hat, rennt in die Küche und erzählt ihrer Mutter vom Gesehenen. Hastig fügt sie ihren Wunsch hinzu, in den Keller zu gehen, wo die anderen Kinder des Hauses ohne sie verstecken spielen. Die Mutter nickt und sagt:

«Es wird uns hier nicht treffen.»

Dieses Spiel geht nun seit vierzehn Tagen. Seit die Allierten Streitkräfte am 8. November 1942 die Stadt fast kampflos eingenommen und die Truppen Vichy-Frankreichs mühelos entwaffnet haben, jagen deutsche Kampfflugzeuge aus Tunesien und Lybien Nacht für Nacht über die Häuser und bombardieren vor allem Hafeneinrichtungen und Militäranlagen. Zu Beginn rannte die Familie noch mehrmals in der Nacht in den Keller. Vier Stockwerke hinunter, vier Stockwerke hinauf. Doch mit der Zahl der Angriffe stieg die Gewissheit: «Es wird uns hier nicht treffen.»

 

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Es ist der 9. August 1945. In der Küche sitzt der Vater am Tisch. In den Strassen der Stadt sind nur ein paar wenige, schattenlose Gestalten zu sehen, die hastig unter den Arkaden Schutz vor der Mittagssonne suchen. Die Vorhänge der Wohnung sind gezogen. Der Vater lauscht in den Stuhl gesunken und mit ausgestreckten Beinen der Stimme im Radio:

Heute um Mitternacht hat die UDSSR Japan den Krieg erklärt. Der sowjetische Aussenminister Molotov erklärt diesen Schritt als Reaktion auf die Weigerung Japans einer bedingungslosen Kapitulation, wie sie in der Potsdamer Erklärung vom 26. Juli verlangt wird. Japan, so Molotov, sei die letzte grosse Kraft, die dem Weltfrieden noch im Wege steht.

Nach der Kapitulation seiner Verbündeten in Europa und dem amerikanischen Atombombenabwurf über Hiroshima vom 6. August ist der Kriegseintritt der Sowjetunion ein weiteres klares Zeichen an den japanischen Kaiser Hirohito, dass ihm keine andere Wahl bleibt, als die Potsdamer Erklärung vollumfänglich zu akzeptieren.

Der Vater taucht seine Füsse in das Becken, dass ihm Claudine hingestellt hat. «Stalin», sagt er, «wird die Sache endlich richten. Endlich sind die Arbeiter an der Reihe.» Er schliesst die Augen und entspannt sich.

Die Mutter legt sechs Teller auf den Tisch. In der Küche riecht es nach gebratenem Fisch und Olivenöl. Die vier Frauen setzen sich und die Mutter serviert den Fisch und den Couscous. Hastige Tritte schlagen im Treppenhaus. Maryse stürmt in die Küche und füllt diese mit Worten. Sie verteilen sich über dem Tisch, prallen gegen die Wand und entweichen durch das offenstehende Fenster in die brennende Strasse. Auf dem Tisch spricht weiter das Radio. Der Vater rückt es zunächst näher und dreht es schliesslich aus.

 

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Eine Hand rüttelt an Claudines Schulter. In Maryses Körper setzen sich die fliessenden Rucke fort. Die beiden teilen sich eine Matratze. An einem Ende ein Kopf und zwei Füsse, am anderen Ende zwei Füsse und ein Kopf. Claudine öffnet die Augen und nimmt die beiden Schalen entgegen, die ihr die Mutter hinstreckt. Ein paar Sekunden später wiederholt sich das Ganze am anderen Bettende. Maryse leert den Lebertran in einem Zug hinunter und verrührt dabei unentwegt den Zucker und das Eigelb in der anderen Schale. Vorsichtig löffelt sie das schaumig-weissliche Gemisch. Ganz hinten im Gaumen, unmittelbar über dem sich öffnenden Rachen, breitet sich nun der charakteristische Geschmack des Gelbs aus. Es ist der schmale Streifen, in dem sich der Fischtran als einzigen nicht festzusetzen vermag. Sie schliesst die Augen und konzentriert sich ganz auf diesen kleinen Bereich kurz vor dem Nacken.

Sie rollt sich zur Seite und richtet sich langsam auf. Mit zunehmender Höhe verdichtet sich ein Geruch von gebratenem Huhn und im selben Augenblick ist das abgehackte Gackern eines lebendigen Exemplars zu hören. Auf dem Flur geht dieses scheinbar ziellos und kopfnickend in Richtung Küche, woher sich der Geruch in die Wohnung verteilt. Maryse tritt in den Flur und hebt Godegotte auf. Sie krault sie am Hinterkopf. Ihr Gackern wird weicher und dabei wendet sie denn Kopf ruckartig in alle Richtungen.

Mit dem Huhn im Arm betritt Maryse die Küche. Dort steht vor dem Tisch der Vater und packt das Zelt aus Holzstangen und Baumwolltüchern sorgfältig in eine grobe Stoffhülle. In einen geflochtenen Korb legt die Mutter die Verpflegung für das Mittagessen. In ölige Zeitungen eingewickelt liegen dort gebratene Peperoni, Zucchetti, Auberginen und Fische. Nur ein Huhn hängt noch über dem kleinen Kohleofen in der Küchenecke. Der Vater blickt aus dem Fenster und atmet tief ein. Die Luft, die der Wind durch die Stadt treibt ist feucht und salzig. Die Mutter legt vier belegte Brote auf den Tisch und ruft eine Äusserung der Beschleunigung durchs Haus.

Zu fünft gehen sie auf die Strasse. Der Bruder Jos, das sechste Familienmitglied, liegt noch in seinem Zimmer und dreht sich in der wieder eingekehrten Ruhe auf die Seite. Jeder mit einem Paket unter dem Arm gehen sie zu Fuss den kurzen Weg zum Strand im Westen der Stadt. Sie legen sich dicht an die geweisselte Betonmauer, die den feinen Sand von den Strassen fernhalten soll. Lachend laufen die drei Mädchen ins Wasser, das bis weit hinaus nur knapp über dem Sand hin und her fliesst. Schwimmen können sie nicht. Dennoch legen sie sich flach wie ein Brett in die spiegelglatte Fläche und lassen sich mit der Sonne auf dem Bauch im Meer treiben. Inzwischen baut der Vater das Zelt auf, unter dem sie in den Mittagsstunden Schutz vor der brennenden Sonne suchen werden. Es ist Sonntag, der 13. Juli 1946.