A wie Aura
Unnahbarkeit. Echtheit. Einmaligkeit. Dies sind die Bedingungen für die Aura eines Kunstwerks, wie sie von Walter Benjamin in seinem 1935 entstandenen Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit bestimmt werden. Aura wird von Benjamin als ein „sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit“, eine „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ definiert. Eine gehobene und auch geheimnisvolle Ausstrahlung, die die Menschen anzieht. Als Beispiel dient ein Gebirgszug am Horizont, den man mit dem Auge von einem ruhigen Plätzchen aus verfolgt. Im Raume der Kunst kann man sich ein Gemälde vorstellen, etwa die Mona Lisa; in der Religion das Turiner Grabtuch. Die Einzigartigkeit der Entstehung solch eines Werkes oder Artefakts, die Originalität und Einmaligkeit, macht die Aura aus.
Die bis heute andauernde Wirkungskraft von Benjamins Text hat viel damit zu tun, dass Aura von ihm gegen die Reproduktionslogik visueller Medien wie Fotografie und Film gesetzt wird. Insbesondere während den 1920ern und 30ern manifestierte sich die zweite industrielle Revolution als Massenproduktion, die auch die Kultur massiv beeinflusste und für die Unterhaltungsindustrie erst die Voraussetzungen schuf. Im Prozess der massenhafte Reproduktion geht die Aura verloren: „Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.“ Prinzipiell ist jedes Kunstwerk reproduzierbar. Schon immer gab es Schüler, die zur Übung ein Werk nachgemalt oder zur Verbreitung reproduziert haben. Doch Benjamin zufolge sind die Innovationen im Film und in der Fotografie die schlimmsten Verbrechen gegen die Aura. Ähnliches gilt für das Museum und das Zeigen ursprünglich ritueller Gegenstände. Seien es Götterstatuen, zu denen nur der Hohepriester Zugang hatte, oder Skulpturen, die für Betrachter nicht sichtbar sind: Die Unnahbarkeit eines Werkes bestimmt die Aura. Benjamin betont, dass auratische Gegenstände niemals von ihrer Ritualfunktion getrennt werden sollten. Denn alle „echten“ Kunstwerke sind immer theologisch fundiert.
Technische Reproduktion löst, wie auch in den von Max Weber als Entzauberung beschriebenen Entwicklungen, die theologische Fundierung eines Werkes und damit auch die Einmaligkeit auf. Einzigkeit und Tradition gehen nämlich Hand in Hand, doch die Menschen der (damaligen) Gegenwart, die sich diese Kunstwerke näher bringen wollen, trennen die Sphären von einander. „Die Reproduktionstechnik“, schreibt Benjamin, „löst das Reproduzierte aus dem Bereiche der Tradition ab“ (Benjamin 1974). Film und Fotografie sind erfolgreich, weil sie den Massen Zugang zu den sonst verschlossenen und exklusiven Entitäten geben können, auch wenn es auf die Kosten der Aura geht. In Die Idee des Schönen formulierte auch schon Hegel den Gedanken, dass das Wollen eines Kunstobjekts, also der Wunsch und die Absicht der Massen, sich die Kunst näher zu bringen, nur ausgeführt werden kann wenn das Schöne, die Objekte selbst, „vernichtet oder sie doch verändert, verarbeitet, formiert“ werden (Hegel 1835).
Die damit verbundenen Fragen gewinnen in der Postmoderne besondere Aktualität. Anne Friedberg sagt in ihrem Essay Les Flaneurs du Mal, Bezug nehmend auf Benjamin, dass zwei Formen der Kunstausbreitung die Aura zerstören: die räumliche Form (Massenverbreitung und -rezeption) und die zeitliche (Wiederholung). Shoppingzentren, Kinos, Museen – alle setzen ein Glas oder Fenster vor das Auge des Betrachters und/oder Konsumenten. Für Friedberg sind sie nichts weiter als Maschinen der Wiederholung und Reproduktion.
Und heute? Albert Lutz meint, dass durch die „Vitrinisierung“, wie sie im von ihm geleiteten Museum Rietberg praktiziert wird, den Kunstobjekten doch noch eine Aura verliehen wird. Er sieht in der Sorgfalt dieser Präsentation „eine Form der Wertschätzung“, obwohl die Gegenstände als Kunst interpretiert, und damit dekontextualisiert werden (vgl. Der Balken in meinem Auge. Interview mit Albert Lutz und Esther Tisa). Was Reproduktionen angeht – sei es diejenige berühmter Gemälde oder von Modeprodukten oder von in Vitrinen aufbewahrten Buddhas – bleibt es wohl so, dass die Aura des Ursprungskontextes mit der Kopie entweder zerstört oder verloren geht. Doch in der Reproduktion durch Medien kann sie auch wieder aufscheinen. Auch fotografische oder filmische „Reproduktionen“ können auratisch wirken, oder zumindest so inszeniert werden – was auch in grossem Ausmass praktiziert wird. Reproduktionskunst, besonders die Fotografie, bietet den Betrachtern und der Kultur eine neue Aura, die Aura der Kunst- und Entstehungsdokumentation. In ihnen wird das „Hier und Jetzt“ der Gegenwart festgehalten, und somit auch die Definition für “Aura“ in unserer Zeit. Schon Benjamin schrieb, dass sich innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume mit der gesamten Daseinsweise der historischen Kollektiva auch ihre Wahrnehmung verändert. Heutzutage finden wir den auratischen Wert in der Fotografie selbst, da sich unsere Kunstwahrnehmung mit der Realität der Massenproduktion verändert hat.
Ein gutes Beispiel ist Naomi Leshems Der Mensch erschafft seinen Gott, eines der in Gastspiel des Museums Rietberg ausgestellten Werke. Auf der Fotografie ist die Guanyin in der Haltung königlicher Lässigkeit abgebildet. Zwar ist Leshems Werk eigentlich eine Kopie des Originals, doch auf dem Bild hat sie der Statue einen kräftigen, goldenen Schein verpasst. Leshem hat der Statue somit eine auratische Bedeutung verliehen, die es im Original nicht zu finden gibt. Unnahbarkeit, Echtheit, Einmaligkeit sind in der gegenwärtigen Kunstrezeption, besonders von Medien der Massenproduktion wie Film und Fotografie, schwierige Begriffe. Aura könnte man unter diesen Bedingungen als das Element bezeichnen, welches Momente der Andacht und Verehrung immer neu in eine Welt einschmuggelt, die grundsätzlich und gründlich entzaubert ist.
- Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Suhrkamp, 1974 (1936)
- G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Suhrkamp, 1986 (1835)
- Anne Friedberg: Les Flaneurs du Mal: Cinema and the Postmodern Condition. PMLA, 1991
Spezialausgabe
Gastspiel im Gastspiel
Sophia Cosby, *1992, arbeitete als Kulturpublizistik-Studentin 2014 bei Zollfreilager mit. Vorher studierte sie Deutsche und Englische Literaturwissenschaft in Edinburgh.