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Tata's Tochter

24 Jahre mit Tata

Tata ich bin an der ZHdK angenommen worden!
18. März 2021 12:27

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13:16

Willst du dahin?
15:01

Zwei Wochen nach dieser «Kommunikation» besuche ich meinen Vater. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und frage ihn, ob er denn nicht stolz auf mich sei. «Hä Marice ich hab doch Daumen geschickt?! Entschuldige wusste nicht, dass du Roman brauchst.» Ok, dachte ich, für ihn drückte der Emoji schon alles Wichtige aus. Oder vielleicht schmerzt ihn die Vorstellung, dass ich wie meine ältere Schwester aus Deutschland wegziehe. Mein Vater hat seine ganze Familie in Serbien verlassen, um mit meiner Mutter zusammen zu sein. Nach 16 Jahren Ehe dann die Scheidung. Er ist nicht weit von uns weggezogen, war immer für uns da, aber bei seiner Familie konnte er auch nicht sein.

Marice hör mal zu: «Geht ein Typ zum Zahnarzt, sagt der Arzt: ‚Oh Sie haben Karies, sie brauchen Krone‘ und so weiter. Sagt der Patient: ‚Mhm ich möchte mir noch eine zweite Meinung einholen.‘ Sagt der Arzt: ‚Und hässlich sind Sie auch noch.‘ Hahahaha Ich finde so gut.»

Wenn ich etwas erzähle und es nicht in seinem Interessebereich liegt, reagiert mein Vater kaum oder gar nicht. Ich frage ihn dann «Hast du eigentlich gehört, was ich gesagt habe?» Hat er, aber das war es dann auch. Mein Vater und ich, wir reden eher in Monologen. Eher aneinander vorbei als miteinander.

 

Ende Mai 2021. Der Bergbaukonzern Rio Tinto kündigt an, ab 2026 in Serbien Lithium für E‑Autobatterien abbauen zu wollen. Laut Umweltschützer:innen wird durch den Einsatz von Schwefelsäure und anderen Chemikalien ein fruchtbares Tal zerstört werden.

«Tata, ich schreibe gerade an einer Reportage.»

«Ah gut. Marice, sie benutzen unsere Länder als Mülldeponien, der Westen wälzt alles ab, was geht, Serbien wird den Dreck vom Lithium haben die anderen ihre Autobatterien bekommen.»

Wir gehen in die serbisch-orthodoxe Kirche. Während meiner ganzen Kindheit hat er meine Schwester und mich sonntags mitgenommen. Wir haben uns im Gottesdienst bekreuzigt, wenn alle anderen es gemacht haben, weil wir eigentlich gar nichts verstanden haben. Es hat uns mehr interessiert, wann es endlich Brot gibt oder ob wir es schaffen, Zuckerwürfel aus der Cafeteria zu stehlen. Doch ihm war es so wichtig, dass wir mitkommen, fast wie ein Ritual.

Mama spielt mit uns Kuddelmuschel, Tata bringt uns lieber Schach bei.

Ich und Jana sind vielleicht acht und neun Jahre alt, wir essen nach langem Warten das Brot. Ich vergesse die Regel, dass alles aufgegessen werden muss und zerschlage die letzten Krümel in meinen Händen.

«MARICE!!!! Was machst du?!»

«Was denn?»

Tata isst aggressiv ein paar Krümel vom Kirchenboden.

Offenbar wird der Generationenunterschied umso grösser, je mehr man anfängt selbst zu denken, wodurch man bemerkt, dass die eigenen Eltern auch nur Menschen sind. Noch dazu ist die serbische Gesellschaft konservativer und religiöser als die deutsche, und umso mehr spalteten sich unsere Meinungen.

Je älter ich wurde, desto mehr zweifelte ich am orthodoxen Glauben, insbesondere in der Frage, wieso Frauen keine Priesterinnen sein durften, meine Schwester kritisierte eine homophobe Aussage in der Mini-Bibel, die er uns geschenkt hatte.

«Die Tusse von der Rezeption wollte mir nicht antworten…»

«Tata sag einfach Frau.»

«Ne Marice sie war Tusse.»

Mein Vater bildet meist seine Meinung im Stillen, lässt dann nicht viel Spielraum, anderen zuzuhören, und wird schnell defensiv, sobald ich nicht derselben Meinung bin.

3. April 2022, Aleksandar Vučić wird als Präsident Serbiens mit einer deutlichen Mehrheit wiedergewählt. Nichtregierungsorganisationen berichten von Gewalt gegen Oppositionskandidat:innen, Stimmenkauf und Einschüchterung von Wähler:innen in den Lokalen.

«Ja, Vučić hat gewonnen, Überraschung. Er manipuliert das Volk, wir drei haben auch Vučić gewählt, allen, die im Ausland leben und nicht wählen können, haben sie die Stimmen genommen. In Deutschland kann ich nicht wählen und in Serbien auch nicht, Leben wie Idiot.»

«Worüber hast du eigentlich mit uns gesprochen, als wir noch Kinder waren?»

«Haben wir zusammen auf dem Boden gelegen und über Ćevapčići geredet.»

Es gibt allgemein viel Unausgesprochenes. Dass man sich liebt, zeigt man mit indirekten Gesten. Der Vater meiner Freundin redet mit ihr eigentlich kaum, aber fragt ununterbrochen ihre Mutter, wie es ihr geht und was sie gerade so macht. Mein Vater fragt mich auch nicht «Wie geht’s dir?», sondern ob ich schon die Nachrichten gesehen habe. Einmal im Jahr sagen wir uns in ungewohnter Stimmlage «h-hab dich lieb..»

Es scheint, als sässe er hinter einem Gitter, und in seltenen Momenten streckt er seine Hand hindurch.

Hör mal zu Marice: «Sagt der Mann zur Ehefrau: ‚Ich gehe jetzt schlafen, kannst du mir volle Flasche Wasser und eine leere Wasserflasche ans Bett stellen?‘ Sagt die Frau: ‚Wieso das denn?‘, sagt der Mann: ‚Vielleicht trinke ich, vielleicht nicht‘. Hahahaha.»

 

Die Autorin Jan Waldron schreibt in ihren Memoiren:

«Papa. Es ist ein Gelübde gegen alle Widerstände, trotz zahlloser gegenteiliger Beispiele. Papa. Es hat nicht die selbstverständliche Wirkung von Mama oder Ma. Es wird immer noch als Refrain einer Ballade gesprochen. Es ist ein Versprechen, das aus dem Herzen kommt und um das Leben kämpft, inmitten des Gemetzels einer hartnäckigen, offensichtlichen gegenteiligen Geschichte und einer entsetzlich dürftigen Umsetzung. Mutterliebe ist reichlich vorhanden und spürbar: Wir beklagen uns, weil wir zu viel davon haben. Die Liebe eines Vaters ist ein seltener Edelstein, der gejagt, poliert und gehortet werden muss. Ihr Wert steigt wegen ihrer Knappheit.»

Vielleicht musste ich erst in ein anderes Land ziehen, um verstehen zu können. Um zu verstehen, was es heisst, sich in eine andere Kultur und Mentalität zu begeben, was es heisst, vielleicht Ablehnung zu erfahren. Als ich in Japan angekommen war, hatte ich ein intensives, tatsächliches Gespräch mit Tata. Er hat mir Tipps gegeben, sich an das neue Land und die Sprache zu gewöhnen, wie man sich anpassen kann, ohne sich selbst zu verlieren. Wie man sich verhält, wenn man die ganze Zeit als Ausländerin auffällt.

Natürlich ist meine Erfahrung als weisse Person in Japan nicht dieselbe wie die meines Vaters als nichtweisse Person in Deutschland. Jedoch sprachen er und ich endlich auf einer anderen Ebene miteinander. Er teilte seine Erfahrungen und den Umgang damit mit mir. Ich hatte den Kontinent verlassen müssen, um mich ihm nah zu fühlen. Vielleicht war es das erste Mal, dass wir wirklich dieselbe Erfahrung machten.

Meine Schwester und ich treffen Tata und seine Freundin in der Stadt. Meine Schwester verliert sich mit Tata im Buchladen. Seine Partnerin und ich interessieren uns für die Osterdeko gegenüber.

«Dein Vater hat mir gesagt, dass er sich riesig freut, dass du Serbisch lernst.»

«Wirklich??? Das hat er mir nie gesagt?»

«Ich weiss.»

Es scheint, als ob man mit Vätern irgendetwas Handfestes teilen muss, um ihnen näher zu kommen. Die Moderatorin und Sängerin Sandra Studer erzählt in einem Interview über das prägendste Erlebnis mit ihrem Vater: «Ich besuchte jahrelang mit ihm jedes Heimspiel des ZSC im Hallenstadion. Ich hatte keine Ahnung von Eishockey und habe die meisten Spiele durchgestrickt – das ist kein Witz. Es war ihm überhaupt nicht peinlich, dass ich mit Wollknäuel und Nadeln dasass. Hauptsache, ich war dabei!»

Am ehesten funktioniert es anscheinend, wenn man Schulter an Schulter mit dem Vater sein kann. Meine Schwester hat sich immer am besten mit ihm verstanden, wenn wir mit dem Auto 22 Stunden runter zu unserer Familie gefahren sind. Sie fährt gerne, wie er, war immer die Verantwortliche für Routen und Orientierung und hat sich mit ihm gekümmert, dass wir sicher ankamen.

Tata wirkt allgemein glücklicher in Serbien. In dem Haus, wo er aufgewachsen ist, in dem Dorf, wo er immer noch die Leute kennt.

Mein Cousin packt ein Geschenk von Tata aus, die Schachtel ist auffällig pink.

«Tata was hast du gekauft? Das Parfum ist für Frauen! Hahahaha.»

«Scheisse ich dachte ‚for her‘ ist ‚für Herren‘.»

«Hahahaha»

«…»

16. Mai 2022. Aufgrund vermehrter anonymer Bombendrohungen werden weit über einhundert Schulen in Belgrad evakuiert

«Tata, Jana und ich wollen dieses Jahr nach Belgrad und zum Tara Nationalpark reisen!»

«Marice muss das sein, nein macht das nicht. Ich kenne mein Land, lass das!»

«Ich dachte, du freust dich?»

«Da sind einfach Banditen, Leute, die euch abzocken wollen. Bitte bitte nein. Nein, dann macht Schweiz oder so, aber da ist Katastrophe! Marice ich habe nie was gesagt du bist nach Japan und Janice ist nach Schweden und Timbuktu, wo ihr immer hin seid aber nein das nicht.»

Meine Schwester und ich planen unsere Reise ohne weitere Kommunikation mit ihm.

«Marice hör mal zu: Es gibt ja immer so ein Sprichwort, also man sagt ja immer kommt ein Leben nach dem Tod? Aber in Serbien sagen die Menschen gibt es ein Leben vor dem Tod? Hahaha.»

Jetzt lebe ich in der Schweiz und studiere in Zürich, und wieder hatten wir ein intensives Gespräch über unterschiedliche Mentalitäten und wie man in eine eher verschlossene Gesellschaft reinkommen kann.

Ich bekomme Post vom schweizerischen Amt. Tata sagt am Telefon: «Siehst du Marice, du, deine Schwester und ich, jetzt haben wir alle Kanackenausweis.»

Tata ich habe ein text über Vater-Tochter Beziehungen geschrieben, du kommst da auch drin vor. Meine Hochschule will das veröffentlichen, ist das ok für dich?
2. Mai 2022, 17:29

У реду – може
17:47

Нема проблема
17:47

Ок
17:47

Hi Marice – wie geht’s?
4. Mai 11:18

Wann wird der Text veröffentlicht?
11:19

Das dauert noch, vielleicht im Juli.
11:53

Bin positiv dargestellt in dein Text?
11:55

Ja auf jeden Fall, ich sprech halt so darüber dass man ne andere Generation ist und aneinander vorbei reden kann, aber trotzdem gut
11:56

Das freut mich
11:57