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Noëmi Roos

Nachspielen – tote Kommunisten, begraben in der Werft

Frühkommentar zu «La Despedida» von Mapa Teatro

Marx, Mao Tse-tung, und Lenin sind gestern noch einmal auf der Werft Bühne in Zürich gestorben. Bevor sie alle einen letzten Atemzug nahmen, konnten die Zuschauer:innen der Geschichte Kolumbiens im Schnelldurchlauf beiwohnen: dem Stück «La Despedida», der grossen Abschiedsfeier des kolumbianischen Kommunismus und des Bürgerkriegs mit den FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia).

Das Ende der Geschichte der FARC ist der Anfang dieses Stücks: In einem ehemaligen FARC Camp in den kolumbianischen Anden spielen Soldaten der Regierung ihre früheren Feind:innen nach. Das Camp der Guerillakämpfer:innen wurde zu einem Museum gemacht, die Sieger sind jetzt Schauspieler. Sie inkorporieren jene, die sie bekämpft haben, jene, die gestorben sind, jene, die im Jahr 2017 nach über 50 Jahren Bürgerkrieg die Waffen niederlegten. Das Theaterkollektiv Mapa Teatro filmt einen Tag im «Museumscamp». Das ehemalige Lager der rebellischen Kämpfer:innen ist nun ausgeweidet, wiederangeeignet, neu belegt von einem denkbar skurrilen Theatertrupp, zusammengesetzt aus Regierungssoldaten.

Gleichzeitig zum «Museumscamp»-Film spielt der erste Dokumentarfilm (1952) über die FARC auf einer zweiten Leinwand. Hier sind die echten Kämpfer:innen in den ersten Guerillacamps zu sehen. Oftmals waren es Bäuer:innen, Arbeiter:innen, die sich mit der grossen kommunistisch-revolutionären Welle gegen die Regierungsparteien stellten. So schallt die Stimme eines Radiosprechers durch den Raum: «Revolution heisst für die Oligarchen: gewaltsamer Umsturz. Für das Volk: konstruktive Veränderung.»

Aber nicht nur in den vorgeführten Filmen wird mit den Figuren jongliert. Auf der Bühne spielt sich die Crew von Mapa Teatro zum einen selbst: Sie erklären den Zuschauer:innen, wie sie sich um den Besuch dieses «Museumscamp» bemüht haben. Wie liessen sie sich auch aus der eigenen Geschichte streichen? Wenn sie über «Kolumbien» und den Bürgerkrieg sprechen, dann sprechen sie auch über ihren Wohnort, über ihre Produktionsstätte, über ihre Quelle der Inspiration. Zum anderen werden sie im Laufe des Stückes als kommunistische Führer, als Musikant:innen, als kollektives Gedächtnis über die Bühne wandeln.

Bruchstückhaft wird die Geschichte erzählt, deren Ende die Realität bildet, in der Kolumbien nun lebt: Mitte des letzten Jahrhunderts entstanden die FARC in den Andenregionen Kolumbiens. Im Krieg mit der Regierung starben etwa 220’000 Menschen. 2017 wurde Frieden geschlossen, die Kämpfe gehen im kleineren Rahmen trotzdem weiter. Die Guerillacamps sind leergefegt, einzelne werden als bizarre Veranstaltungsorte genutzt. Hoffnungs-Narrative dieser Zeit waren: Freiheit, Gleichheit, Kolumbien als Vorreiter:in, Kolumbien als Sieger:in, die erfolgreiche Revolution, der Sieg über die Revolutionäre, das grösste Fest. Keine der Hoffnungen wurde erfüllt.

Stellvertretend für die Enttäuschungen spielen Mapa Teatro noch einmal die Miss Universe Wahlen von 2015 nach: Die kolumbianische Teilnehmerin wurde fälschlicherweise als Miss Universe gekürt – noch auf der Bühne wird ihr die Krone wieder vom Haupt genommen und einer anderen Kandidatin aufgesetzt. Der vermeintliche Sieg wurde zur Blamage. Bad luck colombia.

Drei drehbare Bühnenelemente, Zeitsprünge von über 70 Jahren, interdisziplinäre Vorführungstechniken, zwei Filme, Musik, mehrere Rollen pro Schauspieler:in – ein riesiger historisch-gespielter Flickenteppich. Das verbindende Element: Nachahmung. Die Nachahmung, weitergedacht als Nachahmung, die bei jedem Theaterspiel vorhanden ist. Es ist ein Nachempfinden der vergangenen Geschehnisse, ein Nachholen von Kritik, die nicht vorgebracht wurde, das Nachahmen der Anderen, aber auch von sich selber im Gestus der jeweiligen Zeit. Und nicht zuletzt ein Nachdenken, Nachfühlen, Nachtrauern für alle Opfer, oftmals junge Menschen, die dieser Krieg gefordert hat. So wird das Nachspielen der Vergangenheit zu einem Manifest darüber, was es heisst, wenn alle verlieren und keiner gewinnt.

Dann, nachdem alles nachgedacht, nachgesagt, nachgespielt wurde, tun Marx, Lenin, und Mao Tse-tung, die als sprachlose Geister auf der Bühne umherirrten, ihre letzten Atemzüge. Wo doch ihre Ideen gerade erst den Krieg entfacht hatten. Innerhalb von wenig mehr als einer Stunde ist die Welt in «La Despedida» auf- und wieder untergegangen.

Mapa Teatro ist eine interdisziplinäre Theatergruppe aus Kolumbien, Bogotá. Seit 1984 erarbeitet das Kollektiv rund um das Geschwisterpaar Abderhalden Werkzyklen, die sich um die koloniale Geschichte und die herausfordernde Gegenwart Kolumbiens drehen. Die Figuren, die in den Werken von Mapa Teatro zu Wort kommen, sprechen zu den Zuschauer:innen aus der Vergangenheit oder aus der Gegenwart über und aus dem Leben in Kolumbien.  «Etnoficción» nennen Mapa Teatro die interdisziplinäre Arbeitstechnik, die sich im Graubereich zwischen der Realität und einer erträumten Fiktion bewegt.